8 Wochen lang war ich Gefangener meiner Examensarbeit, 4 Wochen davon besonders intensiv. Daheim im Thüringer Eichsfeld arbeitete ich fast 30 Tage nonstop – Wochenende Fehlanzeige. Es waren die letzten Züge meiner 15 Semester andauernden Studienzeit, doch das Finale gestaltete sich nochmal besonders zäh. Neben ein paar sportlichen Aktivitäten am Abend als Ausgleich zur geistigen Tätigkeit blieben mir derweil nur zwei Fixpunkte, die mir Abwechslung und Motivation zugleich waren: Die Vorfreude auf den zweiwöchigen Bergurlaub mit Richard, der unmittelbar nach Abgabe der Arbeit beginnen würde und das tägliche Schauen der Tour de France. Vor fast zehn Jahren hatte ich das Interesse für den professionellen Radsport verloren – der Dopingsumpf hatte mir das Ganze madig gemacht. Seit ein paar Monaten war ich aber selbst wieder mehr mit dem Rad unterwegs und schlagartig war auch die Lust am Zuschauen zurück. Die dreiwöchige Frankreichrundfahrt wurde so zu meinem täglichen Begleiter.
Zu den besonderen Highlights zählten natürlich die großen Bergetappen in den französischen Alpen. Während ich diese gebannt am Fernseher verfolgte, machte sich im Hinterkopf immer mehr der Wunsch breit, so einen großen Bergpass doch selbst einmal zu befahren. Mehr im Spaß als im Ernst machte ich Richard bald den Vorschlag, für die Fahrt in die Westalpen als Abwechslungsprogramm zum Bergkraxeln doch unsere Räder mitzunehmen. Zu meiner Überraschung stieß ich bei ihm sofort auf offene Ohren und es dauerte gerade mal ein paar Stunden, bis wir beide von der Idee vollends infiziert waren. Dass ich an diesem Tag für meine Examensarbeit kaum etwas geschafft habe, brauch ich wohl nicht weiter erklären. Anstatt konzentriert am Schreibtisch zu sitzen, flatterten mir die Namen bedeutender Anstiege wie Col du Galibier oder Alp d’Huez durch den Kopf. Um ein Haar hätte ich im Eifer unsere bergsteigerischen Ambitionen ganz vergessen…
Ein paar Tage später war der Plan ausgetüftelt. Die Reise würde uns in den südwestlichsten Zipfel der Alpen führen – in die Cottischen Alpen und vor allem in die Dauphine. Hier würden wir nicht nur ein Kontrastprogramm zu den uns wohlbekannten Tälern und Gipfeln Österreichs sowie der Schweiz vorfinden, sondern auch abwechslungsreiche Rad- und Gipfeltouren bestreiten können. Wir waren noch nicht einmal aufgebrochen, doch ein Blick in die Karten genügte, um festzustellen, dass zwei Wochen eigentlich viel zu wenig waren.
Entsprechend groß war die Freude, als es unmittelbar nach Abgabe der Examensarbeit am Morgen des 29.07. endlich los ging, auch wenn der erste Tag nur aus Fahrerei bestand. Nach der beinahe schon traditionellen ersten Nacht auf dem Großen Bernhard-Pass gings gleich in der Früh über Chamonix weiter Richtung Dauphine. Als wir dann gegen Mittag das französische Städtchen St. Michel-de-Maurienne erreichten, lag bereits Radsport-Atmosphäre in der Luft. Überall waren Menschen auf zwei Rädern unterwegs. Als wir rechts abbogen und mit dem Auto zum Col du Telegraphe (1566m) hinauf fuhren, wurden sie immer mehr. In der Mittagshitze quälten sie sich den 850hm Pass zum Fuße des Col du Galibier (2645m) hinauf, wo für die meisten der eigentliche Anstieg erst beginnen sollte. Richard und ich hatten nach langem Überlegen entschieden, unsere Räder erst hinter dem Telegraphen, im Örtchen Valloire (1400m) vom Dach zu nehmen – für unsere erste Passbefahrung waren 1250hm vorerst genug.
Nervös waren wir trotzdem. Keiner von uns beiden wusste, wie sich 1250hm und eine durchschnittliche Steigung von 7,7% anfühlen würden. An diesem Berg war mehrfach Radsportgeschichte geschrieben worden, hinter der Bewertung des Anstiegs als „Hors Catégorie“ verbarg sich nichts weniger als einer der schwersten Radanstiege Frankreichs und nun standen wir Anfänger hier. Abgesehen von der Erfahrung mangelte es allein an der gewöhnlichen Ausstattung. Während mein Cyclocross-Rad den Rennrädern der anderen Fahrer noch am nächsten kam, stand Richard mit seinem deutlich schwereren Crossbike allein auf weiter Flur. Ich für meinen Teil hatte zudem keine Klickpedalschuhe. Doch sei es drum: nun musste es auch so gehen.
Langsam rollten wir los. Die ersten Kilometer ließen wir es etwas ruhiger angehen, um ein Gefühl für die Steigung zu bekommen und das Pulver nicht zu früh zu verschießen. Auf der Suche nach dem eigenen Tempo wurden wir im noch flacheren Gelände im Nu von drei anderen Fahrern überholt. Das konnte ja was werden. Je steiler es dann aber wurde, umso besser fanden Richard und ich unseren Rhythmus. Ich fuhr ein wenig voraus und biss mich hinter einem rötlich gekleideten Franzosen mittleren Alters fest, der uns erst jüngst überholt hatte. Je mehr ich erkannte, dass die Beine gut drauf waren, umso größer wurde auch der Genuss. Etwa nach der Hälfte der Strecke gab es eine starke Rechtskurve und mit einem Mal wurde es arg steil – nun kontinuierlich 8-10% auf mehrere Kilometer. Zum ersten Mal ging ich aus dem Sattel, konnte mein Tempo aber halten und zog am Franzosen vorbei. Nun ging es in ruppigen Serpentinen weiter, bis ich auf dem großen Plateau ankam, von wo sich erstmals der Blick zum Col de Galibier auftat. Langsam machten sich die Beine bemerkbar und der Drang nach einer Pause stieg. Hin und wieder schaute ich nach hinten und bemerkte, dass mir mein Hintermann in gleichbleibenden Abstand folgte. Also weiter fahren! Nun war mein Kampfgeist geweckt. Auf dem dunklen Asphalt waren in allen erdenklichen Sprachen Anfeuerungssprüche geschrieben, die noch von der diesjährigen Tour de France stammten. Es fühlte sich umwerfend an, nun hier selbst unterwegs zu sein. Von der Landschaft bekam ich leider nicht viel mit, zu sehr fokussierte ich das nur langsam näher kommende Ziel. Der letzte Kilometer vor dem Ziel wurde dann nochmal richtig knackig. Der Autor eines Tourenguides hatte diesen mit den eindrücklichen Worten beschrieben: „Kurz bevor man sich bereits auf dem Pass wähnt, nimmt die Steigung in mehreren Kehren nochmal brutal zu. Spätestens hier können Sie sich von Ihrem Sattel endgültig verabschieden.“ Er sollte Recht behalten. Auf den letzten Metern gab ich nochmal alles – dann war es geschafft. Als der Franzose auf dem kleinen Parkplatz neben mir vom Rad stieg, nickten wir uns beide freundlich zu. Ein paar Minuten später stand dann auch Richard neben mir. Er war so ziemlich der einzige ohne Rennrad hier oben, hatte sich dafür aber mehr als tapfer geschlagen. „Das hat Laune gemacht!“ Definitiv, wir waren glücklich und alle Zweifel vom Anfang verflogen.
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Anschließend folgte das eigentliche – wenn auch viel zu kurze – Highlight: die Abfahrt. Mit bis zu 70Km/h gings bergab und wir konnten dabei sogar das eine oder andere Auto überholen.
Am Abend gings mit dem Auto zurück auf den Pass, wo wir nicht nur unsere erste Etappe Revue passieren ließen, sondern auch das eine oder andere Belohnungsbierchen auf uns wartete.
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Am nächsten Morgen gings dann zum ersten Mal vom Sattel in die Bergschuhe. Vom Pass aus sahen wir bereits unser Hauptziel dieser zwei Wochen: Die Majestät der Dauphine – die Barre de Ecrins (4123m).
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Doch dafür war es noch ein wenig zu früh – wir wollten uns erst in Ruhe akklimatisieren. An Alternativen mangelte es ohnehin nicht. Kurz hinter der französisch-italienischen Grenze stand der prominente Monviso (3841m), auf den wir schon länger ein Auge geworfen hatten und der nun zum Greifen nah schien. Um am vielbesuchten höchsten Gipfel der Cottischen Alpen nicht zu sehr ins menschliche Gedränge zu geraten, entschieden wir uns für den Aufstieg über das Boarelli-Biwak (auf ca. 2800m).
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Erwartungsgemäß waren wir auch dort nicht die einzigen Besucher, Wochentag hin oder her. Die phantastische Lage der Unterkunft direkt an einem kleinen See machte aber alles Gedränge um die Schlafplätze wieder wett.
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Am kommenden Morgen verließen wir bewusst als erste die Hütte. Als wir kurz nach 4 Uhr in die Nacht traten, schliefen die anderen Gipfelaspiranten noch. Für den Nachmittag waren Quellwolken und lokale Gewitter angekündigt, da wollten wir uns nicht mehr auf dem Präsentierteller befinden. Die Wegfindung sollte uns trotz Dunkelheit ohnehin nicht vor große Probleme stellen, denn wie Goedeke bereits andeutete, wurden alle möglichen Orientierungsprobleme „mit reichlich Farbe beseitigt.“
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Der Weg durch das Felsenlabyrinth verlief trotz des kraftraubenden Auf und Ab überraschend einfach.
Hier der Blick vom Fuße des Moviso hinauf zum Gipfelbereich (aufgenommen am Nachmittag):
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Da der Fels trocken und vom Gletscher kaum noch etwas übrig war, konnten wir die Steigeisen getrost im Rucksack lassen. Und auch das Seil kam nicht zu Anwendung. Der Großteil des Aufstiegs verlief im IIer, Ier und Gehgelände – in dem wir uns trotz des teilweise brüchigen Geländes ja sicher fühlten. Zwar soll es auch ein paar IIIer Stellen geben, diese sind uns allerdings nicht aufgefallen. Entsprechend kamen wir zügig voran. Nach knapp 3,5h standen wir auf dem Gipfel und zwar mutterseelenallein.
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Alle nachfolgenden Seilschaften waren noch weit hinter uns, sodass wir diesen oft so überlaufenen Berg ganz in Ruhe genießen konnten. Und zu genießen gab es eine Menge. Der Ausblick war ungewöhnlich und grandios zugleich. Über dem Tal lag ein dichter Wolkenteppich, aber derart tief, dass man sich beinah in einem Flugzeug wähnte.
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Zudem waren wir auf dem höchsten Gipfel der näheren Umgebung, von schneebedeckten 4000ern und endlosen Gletschern – wie sonst so typisch auf dieser doch beachtlichen Höhe – fehlte jede Spur. Stattdessen beherrscht der Fels hier die Natur. Optisch ists ein Augenschmaus, zum Klettern ist das meiste hier aber wohl eher nichts. Soweit das Auge reicht, prägen Schutt und Geröll die Flanken und Grate der meisten Berge. Uns wars egal – unsere Mission hier sollte nach dem Abstieg erledigt sein. Da sich die Wolken immer mehr um unseren Berg versammelten, nahmen wir diesen bald auch in Angriff. Zwei Stunden später fielen die ersten Regentropfen – da waren wir zum Glück aber schon wieder fast im Tal.
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Am Abend ließen wir es uns trotz des durchwachsenen Wetters nicht nehmen, auf dem Col d’Angel bei Käse, Brot und Wein gemütlich den Tag ausklingen zu lassen. Dieses Abendprogramm entwickelte sich bei uns über die ganzen zwei Wochen zum immer wiederkehrenden Ritual. Wir haben oft am Komfort gespart, im Grunde nur im Auto oder Zelt geschlafen und auch die Hygiene gern mal vernachlässigt – was den Vino anbelangt, ließen wir es uns an nichts fehlen. Das war unser kleiner Luxus – das Zeichen, das nun der Moment der Erholung gekommen war. Natürlich fragt man sich hin und wieder mal, warum man sich und seinem Körper diese physischen wie psychischen Strapazen immer wieder antut. Warum man nicht einfach weiter ans Meer fährt und die Beine im kühlenden Wasser baumeln lässt. Spätestens wenn wir uns am Abend nach einer langen Tour ins Gras gesetzt haben, in die Weite schauten und der Korken ploppte, waren alle Fragen vergessen. In diesen ruhigen Stunden schauten wir auf den vergangenen Tag zurück und fanden in der Ruhe nicht nur Zufriedenheit, sondern sogar die Motivation für neue Taten.
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Zu den besonderen Highlights zählten natürlich die großen Bergetappen in den französischen Alpen. Während ich diese gebannt am Fernseher verfolgte, machte sich im Hinterkopf immer mehr der Wunsch breit, so einen großen Bergpass doch selbst einmal zu befahren. Mehr im Spaß als im Ernst machte ich Richard bald den Vorschlag, für die Fahrt in die Westalpen als Abwechslungsprogramm zum Bergkraxeln doch unsere Räder mitzunehmen. Zu meiner Überraschung stieß ich bei ihm sofort auf offene Ohren und es dauerte gerade mal ein paar Stunden, bis wir beide von der Idee vollends infiziert waren. Dass ich an diesem Tag für meine Examensarbeit kaum etwas geschafft habe, brauch ich wohl nicht weiter erklären. Anstatt konzentriert am Schreibtisch zu sitzen, flatterten mir die Namen bedeutender Anstiege wie Col du Galibier oder Alp d’Huez durch den Kopf. Um ein Haar hätte ich im Eifer unsere bergsteigerischen Ambitionen ganz vergessen…
Ein paar Tage später war der Plan ausgetüftelt. Die Reise würde uns in den südwestlichsten Zipfel der Alpen führen – in die Cottischen Alpen und vor allem in die Dauphine. Hier würden wir nicht nur ein Kontrastprogramm zu den uns wohlbekannten Tälern und Gipfeln Österreichs sowie der Schweiz vorfinden, sondern auch abwechslungsreiche Rad- und Gipfeltouren bestreiten können. Wir waren noch nicht einmal aufgebrochen, doch ein Blick in die Karten genügte, um festzustellen, dass zwei Wochen eigentlich viel zu wenig waren.
Entsprechend groß war die Freude, als es unmittelbar nach Abgabe der Examensarbeit am Morgen des 29.07. endlich los ging, auch wenn der erste Tag nur aus Fahrerei bestand. Nach der beinahe schon traditionellen ersten Nacht auf dem Großen Bernhard-Pass gings gleich in der Früh über Chamonix weiter Richtung Dauphine. Als wir dann gegen Mittag das französische Städtchen St. Michel-de-Maurienne erreichten, lag bereits Radsport-Atmosphäre in der Luft. Überall waren Menschen auf zwei Rädern unterwegs. Als wir rechts abbogen und mit dem Auto zum Col du Telegraphe (1566m) hinauf fuhren, wurden sie immer mehr. In der Mittagshitze quälten sie sich den 850hm Pass zum Fuße des Col du Galibier (2645m) hinauf, wo für die meisten der eigentliche Anstieg erst beginnen sollte. Richard und ich hatten nach langem Überlegen entschieden, unsere Räder erst hinter dem Telegraphen, im Örtchen Valloire (1400m) vom Dach zu nehmen – für unsere erste Passbefahrung waren 1250hm vorerst genug.
Nervös waren wir trotzdem. Keiner von uns beiden wusste, wie sich 1250hm und eine durchschnittliche Steigung von 7,7% anfühlen würden. An diesem Berg war mehrfach Radsportgeschichte geschrieben worden, hinter der Bewertung des Anstiegs als „Hors Catégorie“ verbarg sich nichts weniger als einer der schwersten Radanstiege Frankreichs und nun standen wir Anfänger hier. Abgesehen von der Erfahrung mangelte es allein an der gewöhnlichen Ausstattung. Während mein Cyclocross-Rad den Rennrädern der anderen Fahrer noch am nächsten kam, stand Richard mit seinem deutlich schwereren Crossbike allein auf weiter Flur. Ich für meinen Teil hatte zudem keine Klickpedalschuhe. Doch sei es drum: nun musste es auch so gehen.
Langsam rollten wir los. Die ersten Kilometer ließen wir es etwas ruhiger angehen, um ein Gefühl für die Steigung zu bekommen und das Pulver nicht zu früh zu verschießen. Auf der Suche nach dem eigenen Tempo wurden wir im noch flacheren Gelände im Nu von drei anderen Fahrern überholt. Das konnte ja was werden. Je steiler es dann aber wurde, umso besser fanden Richard und ich unseren Rhythmus. Ich fuhr ein wenig voraus und biss mich hinter einem rötlich gekleideten Franzosen mittleren Alters fest, der uns erst jüngst überholt hatte. Je mehr ich erkannte, dass die Beine gut drauf waren, umso größer wurde auch der Genuss. Etwa nach der Hälfte der Strecke gab es eine starke Rechtskurve und mit einem Mal wurde es arg steil – nun kontinuierlich 8-10% auf mehrere Kilometer. Zum ersten Mal ging ich aus dem Sattel, konnte mein Tempo aber halten und zog am Franzosen vorbei. Nun ging es in ruppigen Serpentinen weiter, bis ich auf dem großen Plateau ankam, von wo sich erstmals der Blick zum Col de Galibier auftat. Langsam machten sich die Beine bemerkbar und der Drang nach einer Pause stieg. Hin und wieder schaute ich nach hinten und bemerkte, dass mir mein Hintermann in gleichbleibenden Abstand folgte. Also weiter fahren! Nun war mein Kampfgeist geweckt. Auf dem dunklen Asphalt waren in allen erdenklichen Sprachen Anfeuerungssprüche geschrieben, die noch von der diesjährigen Tour de France stammten. Es fühlte sich umwerfend an, nun hier selbst unterwegs zu sein. Von der Landschaft bekam ich leider nicht viel mit, zu sehr fokussierte ich das nur langsam näher kommende Ziel. Der letzte Kilometer vor dem Ziel wurde dann nochmal richtig knackig. Der Autor eines Tourenguides hatte diesen mit den eindrücklichen Worten beschrieben: „Kurz bevor man sich bereits auf dem Pass wähnt, nimmt die Steigung in mehreren Kehren nochmal brutal zu. Spätestens hier können Sie sich von Ihrem Sattel endgültig verabschieden.“ Er sollte Recht behalten. Auf den letzten Metern gab ich nochmal alles – dann war es geschafft. Als der Franzose auf dem kleinen Parkplatz neben mir vom Rad stieg, nickten wir uns beide freundlich zu. Ein paar Minuten später stand dann auch Richard neben mir. Er war so ziemlich der einzige ohne Rennrad hier oben, hatte sich dafür aber mehr als tapfer geschlagen. „Das hat Laune gemacht!“ Definitiv, wir waren glücklich und alle Zweifel vom Anfang verflogen.
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Anschließend folgte das eigentliche – wenn auch viel zu kurze – Highlight: die Abfahrt. Mit bis zu 70Km/h gings bergab und wir konnten dabei sogar das eine oder andere Auto überholen.
Am Abend gings mit dem Auto zurück auf den Pass, wo wir nicht nur unsere erste Etappe Revue passieren ließen, sondern auch das eine oder andere Belohnungsbierchen auf uns wartete.
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Am nächsten Morgen gings dann zum ersten Mal vom Sattel in die Bergschuhe. Vom Pass aus sahen wir bereits unser Hauptziel dieser zwei Wochen: Die Majestät der Dauphine – die Barre de Ecrins (4123m).
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Doch dafür war es noch ein wenig zu früh – wir wollten uns erst in Ruhe akklimatisieren. An Alternativen mangelte es ohnehin nicht. Kurz hinter der französisch-italienischen Grenze stand der prominente Monviso (3841m), auf den wir schon länger ein Auge geworfen hatten und der nun zum Greifen nah schien. Um am vielbesuchten höchsten Gipfel der Cottischen Alpen nicht zu sehr ins menschliche Gedränge zu geraten, entschieden wir uns für den Aufstieg über das Boarelli-Biwak (auf ca. 2800m).
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Erwartungsgemäß waren wir auch dort nicht die einzigen Besucher, Wochentag hin oder her. Die phantastische Lage der Unterkunft direkt an einem kleinen See machte aber alles Gedränge um die Schlafplätze wieder wett.
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Am kommenden Morgen verließen wir bewusst als erste die Hütte. Als wir kurz nach 4 Uhr in die Nacht traten, schliefen die anderen Gipfelaspiranten noch. Für den Nachmittag waren Quellwolken und lokale Gewitter angekündigt, da wollten wir uns nicht mehr auf dem Präsentierteller befinden. Die Wegfindung sollte uns trotz Dunkelheit ohnehin nicht vor große Probleme stellen, denn wie Goedeke bereits andeutete, wurden alle möglichen Orientierungsprobleme „mit reichlich Farbe beseitigt.“
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Der Weg durch das Felsenlabyrinth verlief trotz des kraftraubenden Auf und Ab überraschend einfach.
Hier der Blick vom Fuße des Moviso hinauf zum Gipfelbereich (aufgenommen am Nachmittag):
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Da der Fels trocken und vom Gletscher kaum noch etwas übrig war, konnten wir die Steigeisen getrost im Rucksack lassen. Und auch das Seil kam nicht zu Anwendung. Der Großteil des Aufstiegs verlief im IIer, Ier und Gehgelände – in dem wir uns trotz des teilweise brüchigen Geländes ja sicher fühlten. Zwar soll es auch ein paar IIIer Stellen geben, diese sind uns allerdings nicht aufgefallen. Entsprechend kamen wir zügig voran. Nach knapp 3,5h standen wir auf dem Gipfel und zwar mutterseelenallein.
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Alle nachfolgenden Seilschaften waren noch weit hinter uns, sodass wir diesen oft so überlaufenen Berg ganz in Ruhe genießen konnten. Und zu genießen gab es eine Menge. Der Ausblick war ungewöhnlich und grandios zugleich. Über dem Tal lag ein dichter Wolkenteppich, aber derart tief, dass man sich beinah in einem Flugzeug wähnte.
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Zudem waren wir auf dem höchsten Gipfel der näheren Umgebung, von schneebedeckten 4000ern und endlosen Gletschern – wie sonst so typisch auf dieser doch beachtlichen Höhe – fehlte jede Spur. Stattdessen beherrscht der Fels hier die Natur. Optisch ists ein Augenschmaus, zum Klettern ist das meiste hier aber wohl eher nichts. Soweit das Auge reicht, prägen Schutt und Geröll die Flanken und Grate der meisten Berge. Uns wars egal – unsere Mission hier sollte nach dem Abstieg erledigt sein. Da sich die Wolken immer mehr um unseren Berg versammelten, nahmen wir diesen bald auch in Angriff. Zwei Stunden später fielen die ersten Regentropfen – da waren wir zum Glück aber schon wieder fast im Tal.
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Am Abend ließen wir es uns trotz des durchwachsenen Wetters nicht nehmen, auf dem Col d’Angel bei Käse, Brot und Wein gemütlich den Tag ausklingen zu lassen. Dieses Abendprogramm entwickelte sich bei uns über die ganzen zwei Wochen zum immer wiederkehrenden Ritual. Wir haben oft am Komfort gespart, im Grunde nur im Auto oder Zelt geschlafen und auch die Hygiene gern mal vernachlässigt – was den Vino anbelangt, ließen wir es uns an nichts fehlen. Das war unser kleiner Luxus – das Zeichen, das nun der Moment der Erholung gekommen war. Natürlich fragt man sich hin und wieder mal, warum man sich und seinem Körper diese physischen wie psychischen Strapazen immer wieder antut. Warum man nicht einfach weiter ans Meer fährt und die Beine im kühlenden Wasser baumeln lässt. Spätestens wenn wir uns am Abend nach einer langen Tour ins Gras gesetzt haben, in die Weite schauten und der Korken ploppte, waren alle Fragen vergessen. In diesen ruhigen Stunden schauten wir auf den vergangenen Tag zurück und fanden in der Ruhe nicht nur Zufriedenheit, sondern sogar die Motivation für neue Taten.
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