Dutzende Gipfel hat Hugh Herr bestiegen - obwohl er an beiden Unterschenkeln amputiert ist. Jetzt strebt der Biophysiker nach der perfekten Prothese: künstliche Beine, die besser sind als natürliche.
"Unglaublich, diese Beine sind so schnell": Hugh Herr flitzt das erste Mal mit seiner neuesten Kreation durch sein Labor - und ist begeistert. Mit den zwei Unterschenkeln aus Gestänge, Schrauben und einem Motor im Fußgelenk habe er sich das erste Mal ein wenig wie ein Roboter gefühlt. Dabei mag der US-Tüftler das Wort "Roboter" gar nicht. Es sei negativ, während er selbst Gutes im Sinn hat: Beinamputierte sollen wieder laufen können. So wie er.
Seine echten Beine verlor er im Jahr 1982 am Mount Washington, mit 1917 Metern der höchste Berg im Nordosten der USA, der berüchtigt ist für sein arktisches Wetter und Wind-Rekorde. Der damals 17-jährige Herr und ein Freund gerieten auf einer Hochebene ohne Kompass in einen Schneesturm; manchmal versanken sie bis zur Brust im Schnee. Nach dreieinhalb Tagen wurden die beiden gefunden - mit schwersten Erfrierungen. Die Unterschenkel mussten ab.
"Ich musste zurück in die Berge", erzählt Herr. Schon zehn Jahre lang war Kraxeln seine Passion gewesen, aufhören wollte er auf keinen Fall. Als er nach zwei Wochen Reha-Klinik übers Wochenende nach Hause durfte, ging er sofort wandern. "Es war dumm von den Ärzten, mir zu erlauben, die Prothesen mit nach Hause zu nehmen." Herr schmunzelt. Die Holzprothesen von damals taten höllisch weh. Seitdem konstruiert er selbst Beine, studierte dafür Physik und Biomechanik.
Inbusschlüssel fürs Zweitbein
Herr schlurft und rennt durch das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT), einem Ort für den Bastler und Tüftler im Wissenschaftler: Der Biophysiker steigt die Treppe zu einer seiner Werkstätten hinab und zeigt dort, wie man mit einem Inbusschlüssel innerhalb einer Minute ein Bein austauschen kann. Er führt in sein kleines Büro, wo alte und neue Beinprothesen stehen und an der Wand eine Tafel mit Notizen und Formeln hängt.
"Meine Seele hat sich geändert", sagt Herr heute über die Amputation. Sein Blick ist ruhig und zuversichtlich. Man sieht ihm den schweren Schicksalsschlag an, aber auch den Glauben daran, dass es weiter geht, gar besser werden kann.
Nachdem ihm die beiden Unterschenkel abgenommen worden waren, trennte sich Herr von seiner damaligen Freundin. Er musste erst einmal alleine mit sich wieder ins Lot kommen. "Man fühlt sich hässlich", sagt Herr. Doch dann kletterte er wieder, wurde besser als je zuvor. "Ich wurde stolz, ich fühlte mich stark."
Bald, erzählt er, zelebrierte er jeden Trip, er bemalte seine Holzprothesen. Mit einem Mal habe er sich sexy gefühlt. Es folgten "Tausende Dates" - "nicht aus Mitleid", sagt er, sondern wegen seiner Ausstrahlung. "Dein Herz und deine Seele stecken nicht in deinen Füßen und Beinen", sagt er. Heute ist Herr verheiratet, hat zwei Töchter im Alter von vier und zwei Jahren.
Von Mitleid hält der sportliche Forscher ohnehin nichts. "Aus Mitleid wird über Nacht Neid", sagt er immer wieder. Auf seine Lebenskraft, seinen Forschererfolg, seine sportlichen Leistungen: Hugh Herr hat mit Eispickeln, ausfahrbaren Teleskopbeinen und anderen Sonderanfertigungen seit seinem Unfall rund 40 Erstbesteigungen geschafft - und hat an Gletscherwänden keine Angst mehr vor erfrierenden Füßen.
Steht eine neue Ära bevor, in der Prothesen kein mäßiger Behelf mehr sind, sondern das Original übertreffen werden? "Die Leute meinen, ich hätte keine Beine, dabei habe ich zehn Paar", sagte kürzlich Aimee Mullins, mehrfache Paralympics-Siegerin und Top-Model. Der flinke Südafrikaner Oscar Pistorius will mit den Kunstbeinen eines Sport-Prothesenherstellers bei den nächsten Olympischen Spielen mitsprinten. Prompt fragte die "New York Times", ob Pistorius "disabled or too-abled" sei - "behindert oder überbefähigt": Mit seinen Zeiten könnte der 20-Jährige zwar ins südafrikanische Olympiateam, doch das lassen die Bestimmungen des Welt- Leichtathletikverbandes nicht zu.
"Porsche der Beine" für neue Sprintrekorde
Am "Porsche der Beine" bastelt auch Herr. So nennt er jene Prothese, die Homo sapiens schneller laufen lassen soll als seine natürlichen Gliedmaßen. Warum? Mit blinzelnden Augen verrät er: "um die Menschen zu schocken".
Für den Selbstversuch lässt sich der Konstrukteur bald Sensoren in beide Beinstummel implantieren. Muskeln und Maschine sollen eins werden. "Wenn ich dann in Gedanken meine Phantombeine bewege, werden sich die Prothesen bewegen", sagt Herr. Ein erster Test mit Elektroden, die in die Haut gestochen wurden, war erfolgreich: Da war auf einmal nicht mehr nur dieser Phantomschmerz, das vermeintliche Kribbeln in den längst entfernten Beinen, erzählt Herr, sondern auch eine "emotionale Beziehung" zu den künstlichen.
Das Hirn steuert den Körper, auch wenn dieser reinste Technik ist: So klingen Herrs Pläne, so zeigte das Magazin "Wired" einen Mitarbeiter aus Herrs Laboratorium als Fotomontage aus Forscher und Maschinenmensch. "Robo sapiens Revolution" lautete die Zeile über der Titelseite, die als Farbkopie das Büro des Biomechatronikers schmückt. Dabei betont Herr, er wolle keine Übermenschen kreieren.
Früher hätte man seine Arbeit vielleicht als Science Fiction belächelt. Bald schon könnten sie ethische Fragen zur Definition von Körper und Persönlichkeit aufwerfen. Herr sieht das gelassen und glaubt, dass in diesem Jahrhundert alles möglich wird. Sogar diese Vision: "Menschen mit normalen Körpern werden die technische Aufrüstung regelrecht wollen." Wer ließe sich absichtlich ein gesundes Bein amputieren?
Das sei gar nicht nötig, sagt Herr, die Prothese könnte als drittes Bein am Becken angebaut werden - als Ergänzung der beiden natürlichen.
Zur Person: Hugh Herr, 1964 im US- Bundesstaat Pennsylvania geboren, wollte seit seinem Kletterunfall 1982 Prothesen entwickeln, die die Natur der Beine und des Laufens nachahmen. Dazu studierte er zunächst Physik, danach Mechanical Engineering am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge und promovierte anschließend an der benachbarten Harvard University. Seit 2004 leitet er am MIT Media Lab seine eigene Biomechatronik- Gruppe, die mit rund zwei Dutzend Mitarbeitern mittlerweile die größte in der Einrichtung ist. Herrs kürzlich gegründete Firma iWalk wird im Jahr 2008 mit der Serienproduktion der "Active Ankle- Foot Prothesis" beginnen. Sie imitiert natürliche Fußgelenke, so dass der künstliche Fuß aufsetzen, abrollen und anheben kann.
Quelle: Spiegel.de
"Unglaublich, diese Beine sind so schnell": Hugh Herr flitzt das erste Mal mit seiner neuesten Kreation durch sein Labor - und ist begeistert. Mit den zwei Unterschenkeln aus Gestänge, Schrauben und einem Motor im Fußgelenk habe er sich das erste Mal ein wenig wie ein Roboter gefühlt. Dabei mag der US-Tüftler das Wort "Roboter" gar nicht. Es sei negativ, während er selbst Gutes im Sinn hat: Beinamputierte sollen wieder laufen können. So wie er.
Seine echten Beine verlor er im Jahr 1982 am Mount Washington, mit 1917 Metern der höchste Berg im Nordosten der USA, der berüchtigt ist für sein arktisches Wetter und Wind-Rekorde. Der damals 17-jährige Herr und ein Freund gerieten auf einer Hochebene ohne Kompass in einen Schneesturm; manchmal versanken sie bis zur Brust im Schnee. Nach dreieinhalb Tagen wurden die beiden gefunden - mit schwersten Erfrierungen. Die Unterschenkel mussten ab.
"Ich musste zurück in die Berge", erzählt Herr. Schon zehn Jahre lang war Kraxeln seine Passion gewesen, aufhören wollte er auf keinen Fall. Als er nach zwei Wochen Reha-Klinik übers Wochenende nach Hause durfte, ging er sofort wandern. "Es war dumm von den Ärzten, mir zu erlauben, die Prothesen mit nach Hause zu nehmen." Herr schmunzelt. Die Holzprothesen von damals taten höllisch weh. Seitdem konstruiert er selbst Beine, studierte dafür Physik und Biomechanik.
Inbusschlüssel fürs Zweitbein
Herr schlurft und rennt durch das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT), einem Ort für den Bastler und Tüftler im Wissenschaftler: Der Biophysiker steigt die Treppe zu einer seiner Werkstätten hinab und zeigt dort, wie man mit einem Inbusschlüssel innerhalb einer Minute ein Bein austauschen kann. Er führt in sein kleines Büro, wo alte und neue Beinprothesen stehen und an der Wand eine Tafel mit Notizen und Formeln hängt.
"Meine Seele hat sich geändert", sagt Herr heute über die Amputation. Sein Blick ist ruhig und zuversichtlich. Man sieht ihm den schweren Schicksalsschlag an, aber auch den Glauben daran, dass es weiter geht, gar besser werden kann.
Nachdem ihm die beiden Unterschenkel abgenommen worden waren, trennte sich Herr von seiner damaligen Freundin. Er musste erst einmal alleine mit sich wieder ins Lot kommen. "Man fühlt sich hässlich", sagt Herr. Doch dann kletterte er wieder, wurde besser als je zuvor. "Ich wurde stolz, ich fühlte mich stark."
Bald, erzählt er, zelebrierte er jeden Trip, er bemalte seine Holzprothesen. Mit einem Mal habe er sich sexy gefühlt. Es folgten "Tausende Dates" - "nicht aus Mitleid", sagt er, sondern wegen seiner Ausstrahlung. "Dein Herz und deine Seele stecken nicht in deinen Füßen und Beinen", sagt er. Heute ist Herr verheiratet, hat zwei Töchter im Alter von vier und zwei Jahren.
Von Mitleid hält der sportliche Forscher ohnehin nichts. "Aus Mitleid wird über Nacht Neid", sagt er immer wieder. Auf seine Lebenskraft, seinen Forschererfolg, seine sportlichen Leistungen: Hugh Herr hat mit Eispickeln, ausfahrbaren Teleskopbeinen und anderen Sonderanfertigungen seit seinem Unfall rund 40 Erstbesteigungen geschafft - und hat an Gletscherwänden keine Angst mehr vor erfrierenden Füßen.
Steht eine neue Ära bevor, in der Prothesen kein mäßiger Behelf mehr sind, sondern das Original übertreffen werden? "Die Leute meinen, ich hätte keine Beine, dabei habe ich zehn Paar", sagte kürzlich Aimee Mullins, mehrfache Paralympics-Siegerin und Top-Model. Der flinke Südafrikaner Oscar Pistorius will mit den Kunstbeinen eines Sport-Prothesenherstellers bei den nächsten Olympischen Spielen mitsprinten. Prompt fragte die "New York Times", ob Pistorius "disabled or too-abled" sei - "behindert oder überbefähigt": Mit seinen Zeiten könnte der 20-Jährige zwar ins südafrikanische Olympiateam, doch das lassen die Bestimmungen des Welt- Leichtathletikverbandes nicht zu.
"Porsche der Beine" für neue Sprintrekorde
Am "Porsche der Beine" bastelt auch Herr. So nennt er jene Prothese, die Homo sapiens schneller laufen lassen soll als seine natürlichen Gliedmaßen. Warum? Mit blinzelnden Augen verrät er: "um die Menschen zu schocken".
Für den Selbstversuch lässt sich der Konstrukteur bald Sensoren in beide Beinstummel implantieren. Muskeln und Maschine sollen eins werden. "Wenn ich dann in Gedanken meine Phantombeine bewege, werden sich die Prothesen bewegen", sagt Herr. Ein erster Test mit Elektroden, die in die Haut gestochen wurden, war erfolgreich: Da war auf einmal nicht mehr nur dieser Phantomschmerz, das vermeintliche Kribbeln in den längst entfernten Beinen, erzählt Herr, sondern auch eine "emotionale Beziehung" zu den künstlichen.
Das Hirn steuert den Körper, auch wenn dieser reinste Technik ist: So klingen Herrs Pläne, so zeigte das Magazin "Wired" einen Mitarbeiter aus Herrs Laboratorium als Fotomontage aus Forscher und Maschinenmensch. "Robo sapiens Revolution" lautete die Zeile über der Titelseite, die als Farbkopie das Büro des Biomechatronikers schmückt. Dabei betont Herr, er wolle keine Übermenschen kreieren.
Früher hätte man seine Arbeit vielleicht als Science Fiction belächelt. Bald schon könnten sie ethische Fragen zur Definition von Körper und Persönlichkeit aufwerfen. Herr sieht das gelassen und glaubt, dass in diesem Jahrhundert alles möglich wird. Sogar diese Vision: "Menschen mit normalen Körpern werden die technische Aufrüstung regelrecht wollen." Wer ließe sich absichtlich ein gesundes Bein amputieren?
Das sei gar nicht nötig, sagt Herr, die Prothese könnte als drittes Bein am Becken angebaut werden - als Ergänzung der beiden natürlichen.
Zur Person: Hugh Herr, 1964 im US- Bundesstaat Pennsylvania geboren, wollte seit seinem Kletterunfall 1982 Prothesen entwickeln, die die Natur der Beine und des Laufens nachahmen. Dazu studierte er zunächst Physik, danach Mechanical Engineering am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge und promovierte anschließend an der benachbarten Harvard University. Seit 2004 leitet er am MIT Media Lab seine eigene Biomechatronik- Gruppe, die mit rund zwei Dutzend Mitarbeitern mittlerweile die größte in der Einrichtung ist. Herrs kürzlich gegründete Firma iWalk wird im Jahr 2008 mit der Serienproduktion der "Active Ankle- Foot Prothesis" beginnen. Sie imitiert natürliche Fußgelenke, so dass der künstliche Fuß aufsetzen, abrollen und anheben kann.
Quelle: Spiegel.de
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