Edi Koblmüller hat eine Lawinen-Totalverschüttung bei einer Skitour im Gran Sasso-Gebiet dank Airbag und VS-Gerät überlebt. Anbei sein Report aus dem aktuellen LAND DER BERGE 3/05 - was sagt ihr dazu?
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Tourenbindung in Aufstiegsstellung:
Todesfalle in der Lawine
Alle wissen es, kaum jemand spricht darüber: Die beim Aufstieg offene, an der Ferse nicht fixierte Bindung kann in der Lawine zur tödlichen Falle werden. Ende Februar am Gran Sasso leider selbst erlebt, mit viel Glück überlebt, hier erzählt und zur Diskussion gestellt.
In allen Lawinenlehrbüchern finden sich Regeln über das Verhalten, wenn es passiert. Der wichtigste Ratschlag lautet immer, sich sofort von Ski und Stöcken zu befreien, denn die ziehen Dich wie Anker unter die Schneemassen. Im Prinzip richtig, aber sehr theoretisch. Denn aktives „Befreien“ ist bei modernen Sicherheitsbindungen zumindest beim Aufstieg kaum möglich - je nach Modell lösen sie vielleicht, vielleicht nicht oder ganz sicher nicht aus.
Um Haaresbreite...
Aufstieg zum Gran Sasso in den Abruzzen, ein paar Schritte zuviel - ich hätte es wissen müssen. Das Schneebrett bricht lautlos, der ganze Hang gleitet, mit der offenen Bindung keine Chance zu Gegenwehr. Ich greife zum Auslösegriff des ABS-Rucksacks, sehe das Orange der Airbags, spüre starken Zug an den Beinen. Neue Schneemassen von oben - ich werde verschüttet. Stille, bewegungsunfähig festgepreßt, keine Atemhöhle, stöhnendes Ausatmen. Keine Angst, ich sollte versuchen, den Arm zu strecken, sie werden gleich da sein. Dann nichts mehr.
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Sie waren wirklich gleich da, meine sechs Freunde. 3 Minuten bis zur Ortung mit dem VS-Gerät, schaufeln, was das Zeug hält, die Zeit läuft, 10, vielleicht 12 Minuten.... Ich erwache aus tiefer Bewußtlosigkeit.
Rekonstruktion und Fakten
Großflächiges Schneebrett, Anriß halber Meter, Mitreißstrecke 150 m, Lawinenstau in großer Mulde, Verschüttungstiefe dreiviertel Meter. Meine Begleiter beobachteten den Lawinenabgang 50 bis 100 m entfernt, sahen die Airbags bis kurz vor Lawinenstillstand, am Ende der Fließstrecke dann nicht mehr. Sekunden später sei ich vom zweiten Teil des Schneebretts endgültig verschüttet worden. Körperposition relativ aufrecht, mit stark ausgedrehten, an die tief begrabenen Ski regelrecht „angenagelten“ Beinen. Die Bindung, eine Dynafit Tourlite Tech, durfte per definitionem nicht auslösen (weil nur mit verriegeltem Backen für Aufstieg funktionsfähig), und tat dies „richtigerweise“ auch nicht...
Der persönliche Stoßseufzer darf auch erwähnt werden: Ich habe „Schwein“ gehabt. Ohne das professionelle Können meiner Retter wäre die Geschichte nicht gut ausgegangen. Ohne ABS plus VS-Gerät würde ich diese Geschichte nicht schreiben können. Warum es zum Lawinenunfall kam, ist eine andere Geschichte. Es hätte nicht passieren dürfen.
Schlußfolgerungen
Bei der Frage „...und was lernen wir daraus?“, ergeben sich zwei Themen, über die man nachdenken sollte.
Erstens über das ABS bzw. VS-Gerät: Nur der kombinierte Einsatz beider Rettungssysteme hat mein Leben gerettet - mit einem allein hätte ich schlechte Karten gehabt. Der ABS-Rucksack hat höchstwahrscheinlich eine noch tiefere Verschüttung im Lawinenstau verhindert, und das Ortovox hat die Ortung ermöglicht. Ich halte daher die Diskussionen im heurigen Winter (auch die im LDB), ob VS oder ABS „effizienter“ sind, für absolut entbehrlich. Wer das Leben liebt, braucht beides.
Zweitens über den fatalen Klotz am Bein, wenn die Bindung in der Lawine nicht auslöst. Bei allen Tourenbindungen ist es in Aufstiegsstellung purer Zufall, ob Du vom Ski loskommst oder ob er Dich in die Lawine saugt. Bei der Dynafit Tourlite hast Du ohnehin keine Chance, die Ski „abzuwerfen“. Das ist keine Polemik gegen ein Produkt, das ist eine Tatsache. Allerdings bist Du mit anderen „Sicherheitsbindungen“ auch nicht auf der sicheren Seite - auch die Fritschi möchte ich nicht in der Lawine testen. Ob bei aufgeklappter Bindung die Drehmomente zur Auslösung reichen, dürfte reines Lotteriespiel sein. Bei ungünstiger Hebelwirkung wird eher der Knochen brechen als ein Teil der Bindung. Und aktives Öffnen in den entscheidenden ersten Sekunden ist selbst für den gelenkigsten Aufsteiger ein Ding der Unmöglichkeit, egal bei welcher Bindung.
Erstaunlich an diesen unerfreulichen Szenarien ist, daß das Thema kein Thema ist. Selbst der TÜV beschränkt sich auf die Bindungssicherheit bei der Abfahrt - für die sichere Funktion beim Aufstieg gibts kein Label. Wir wissen das oder sollten es wissen, verdrängen aber die Gefahr.
Jetzt aber drängt sich der Appell an die Industrie, an die Ingenieure und Techniker auf: Es kann doch nicht sein, daß die Konstruktion einer Tourenbindung, die das Prädikat Sicherheitsbindung auch beim Aufstieg verdient, heutzutage nicht machbar ist…
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Tourenbindung in Aufstiegsstellung:
Todesfalle in der Lawine
Alle wissen es, kaum jemand spricht darüber: Die beim Aufstieg offene, an der Ferse nicht fixierte Bindung kann in der Lawine zur tödlichen Falle werden. Ende Februar am Gran Sasso leider selbst erlebt, mit viel Glück überlebt, hier erzählt und zur Diskussion gestellt.
In allen Lawinenlehrbüchern finden sich Regeln über das Verhalten, wenn es passiert. Der wichtigste Ratschlag lautet immer, sich sofort von Ski und Stöcken zu befreien, denn die ziehen Dich wie Anker unter die Schneemassen. Im Prinzip richtig, aber sehr theoretisch. Denn aktives „Befreien“ ist bei modernen Sicherheitsbindungen zumindest beim Aufstieg kaum möglich - je nach Modell lösen sie vielleicht, vielleicht nicht oder ganz sicher nicht aus.
Um Haaresbreite...
Aufstieg zum Gran Sasso in den Abruzzen, ein paar Schritte zuviel - ich hätte es wissen müssen. Das Schneebrett bricht lautlos, der ganze Hang gleitet, mit der offenen Bindung keine Chance zu Gegenwehr. Ich greife zum Auslösegriff des ABS-Rucksacks, sehe das Orange der Airbags, spüre starken Zug an den Beinen. Neue Schneemassen von oben - ich werde verschüttet. Stille, bewegungsunfähig festgepreßt, keine Atemhöhle, stöhnendes Ausatmen. Keine Angst, ich sollte versuchen, den Arm zu strecken, sie werden gleich da sein. Dann nichts mehr.
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Sie waren wirklich gleich da, meine sechs Freunde. 3 Minuten bis zur Ortung mit dem VS-Gerät, schaufeln, was das Zeug hält, die Zeit läuft, 10, vielleicht 12 Minuten.... Ich erwache aus tiefer Bewußtlosigkeit.
Rekonstruktion und Fakten
Großflächiges Schneebrett, Anriß halber Meter, Mitreißstrecke 150 m, Lawinenstau in großer Mulde, Verschüttungstiefe dreiviertel Meter. Meine Begleiter beobachteten den Lawinenabgang 50 bis 100 m entfernt, sahen die Airbags bis kurz vor Lawinenstillstand, am Ende der Fließstrecke dann nicht mehr. Sekunden später sei ich vom zweiten Teil des Schneebretts endgültig verschüttet worden. Körperposition relativ aufrecht, mit stark ausgedrehten, an die tief begrabenen Ski regelrecht „angenagelten“ Beinen. Die Bindung, eine Dynafit Tourlite Tech, durfte per definitionem nicht auslösen (weil nur mit verriegeltem Backen für Aufstieg funktionsfähig), und tat dies „richtigerweise“ auch nicht...
Der persönliche Stoßseufzer darf auch erwähnt werden: Ich habe „Schwein“ gehabt. Ohne das professionelle Können meiner Retter wäre die Geschichte nicht gut ausgegangen. Ohne ABS plus VS-Gerät würde ich diese Geschichte nicht schreiben können. Warum es zum Lawinenunfall kam, ist eine andere Geschichte. Es hätte nicht passieren dürfen.
Schlußfolgerungen
Bei der Frage „...und was lernen wir daraus?“, ergeben sich zwei Themen, über die man nachdenken sollte.
Erstens über das ABS bzw. VS-Gerät: Nur der kombinierte Einsatz beider Rettungssysteme hat mein Leben gerettet - mit einem allein hätte ich schlechte Karten gehabt. Der ABS-Rucksack hat höchstwahrscheinlich eine noch tiefere Verschüttung im Lawinenstau verhindert, und das Ortovox hat die Ortung ermöglicht. Ich halte daher die Diskussionen im heurigen Winter (auch die im LDB), ob VS oder ABS „effizienter“ sind, für absolut entbehrlich. Wer das Leben liebt, braucht beides.
Zweitens über den fatalen Klotz am Bein, wenn die Bindung in der Lawine nicht auslöst. Bei allen Tourenbindungen ist es in Aufstiegsstellung purer Zufall, ob Du vom Ski loskommst oder ob er Dich in die Lawine saugt. Bei der Dynafit Tourlite hast Du ohnehin keine Chance, die Ski „abzuwerfen“. Das ist keine Polemik gegen ein Produkt, das ist eine Tatsache. Allerdings bist Du mit anderen „Sicherheitsbindungen“ auch nicht auf der sicheren Seite - auch die Fritschi möchte ich nicht in der Lawine testen. Ob bei aufgeklappter Bindung die Drehmomente zur Auslösung reichen, dürfte reines Lotteriespiel sein. Bei ungünstiger Hebelwirkung wird eher der Knochen brechen als ein Teil der Bindung. Und aktives Öffnen in den entscheidenden ersten Sekunden ist selbst für den gelenkigsten Aufsteiger ein Ding der Unmöglichkeit, egal bei welcher Bindung.
Erstaunlich an diesen unerfreulichen Szenarien ist, daß das Thema kein Thema ist. Selbst der TÜV beschränkt sich auf die Bindungssicherheit bei der Abfahrt - für die sichere Funktion beim Aufstieg gibts kein Label. Wir wissen das oder sollten es wissen, verdrängen aber die Gefahr.
Jetzt aber drängt sich der Appell an die Industrie, an die Ingenieure und Techniker auf: Es kann doch nicht sein, daß die Konstruktion einer Tourenbindung, die das Prädikat Sicherheitsbindung auch beim Aufstieg verdient, heutzutage nicht machbar ist…
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