Wenn die SAC-Hütte plötzlich in der Gefahrenzone liegt
Beim Berner Mutthorn bricht der Berg weg. Die SAC-Hütte darunter musste geschlossen werden – auch bei anderen Hütten steigt die Gefahr.
Er misst die Unsicherheit schon seit über zehn Jahren. Diese unsicheren 100’000 Kubikmeter Berner Fels an der Walliser Kantonsgrenze. 1600 Lastwagenladungen Gestein. In einem Rumms könnten sie von der Ostflanke des Mutthorns niedergehen. Wann genau, weiss niemand, vielleicht am ehesten noch Hans-Rudolf Keusen.
Der Geologe glaubt, dass das sehr bald der Fall sein wird. «Eigentlich habe ich es auf Ende letzten Dezember erwartet», sagt er. Zu viel Bewegung mass er dort, zu viel Unsicherheit. «In den letzten Jahren haben sich die Risse am Mutthorn jeweils um bis zu sechs Zentimeter vergrössert. In letzter Zeit hat sich das sogar noch stark beschleunigt.»
Permafrost lockert seinen eisigen Griff
Im Auftrag des Schweizerischen Alpen-Club (SAC) nimmt Keusen die Messungen vor. Der SAC will von ihm wissen, was sich am Mutthorn tut. Denn darunter hat der SAC eine Hütte. Auf 2901 Metern über Meer. Spektakulär zwischen Kanderfirn und Tschingelgletscher gelegen, mit Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Sieben Stunden Aufstieg. 100 Schlafplätze. Nun steht dieses steinige Refugium mitten in der Gefahrenzone. Denn weiter oben lockert der Permafrost seinen eisigen Griff.
Gefahr droht auch von unten. Der Sockel, auf dem die Terrasse der Mutthornhütte steht, rutscht weg. Das Gletschereis, das den Felsen stützte, hat sich zurückgezogen.
Darum wurde die Mutthornhütte geschlossen. Zum ersten Mal seit 127 Jahren. «Es war leider eine zwingende, unausweichliche Entscheidung», sagt Hans-Rudolf Keusen. «Wir hätten das nicht mehr verantworten können.»
Die Schliessung der kleinen Hütte hat viel mit dem Grossen zu tun. Der Klimawandel lässt durch die höheren Temperaturen die Gletscher schmelzen, den Permafrost auftauen. Der Alpenraum wandelt sich dramatisch, das ist nicht neu. Aber auch ein Experte wie Stefan Margreth staunt noch immer, wie schnell alles geht. «In nur 40 Jahren haben sich die Bedingungen für die SAC-Hütten, die oftmals an exponierten, extremen Lagen stehen, zum Teil massiv verändert.»
Margreth forscht seit den 80er-Jahren am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos. Und er hat für den Alpen-Club 2018 eine viel beachtete Studie geleitet. Darin legt der Bauingenieur dar, dass von insgesamt 153 Hütten fast jede fünfte unmittelbar durch Lawinen gefährdet ist und Handlungsbedarf besteht. Bei weiteren 37 besteht eine mögliche Gefährdung. «Ja, in all diesen Fällen muss man die Gefahren sehr ernst nehmen», sagt Stefan Margreth. Aber alarmistisch will der Lawinenforscher nicht sein.
Es könne an einzelnen, tiefer gelegenen Standorten durchaus sein, dass es durch den Klimawandel sogar sicherer werde. Der Winter werde kürzer, die Schneedecke wärmer und damit die Lawine kürzer. «Sicher ist aber, dass die Klimaerwärmung uns noch stark beschäftigen wird. Denn man muss jetzt jeden einzelnen Hüttenstandort nochmals ganz genau anschauen.»
Jedes Jahr einen Meter Eis weniger
Ein Standort, den Margreth besonders gut kennt, liegt am Eck der drei Kantone Wallis, Uri und Bern. Die Trifthütte. 2520 Meter über Meer. Knapp fünf Stunden Aufstieg. 62 Schlafplätze. Den Gletscher am darüberliegenden Hintertierberg hat der Lawinenexperte mehrmals untersucht und gesehen, dass die Eisdicke in nur 25 Jahren um 25 Meter abgenommen hat. Jedes Jahr ein Meter weniger Eis.
Was das für Auswirkungen haben kann, erfuhr die Öffentlichkeit unmittelbar und bildstark. Die SRF-Sendung «Hüttengeschichten» hatte die Trifthütte über Monate hinweg immer wieder besucht – um dann plötzlich von einer Katastrophe berichten zu müssen. Eine Schneelawine hatte Teile der Hütte zerstört, eine daneben liegende Holzhütte mit 20 Schlafplätzen zerhäckselt. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt im Januar 2021 unbewohnt, die Trifthütte ist erst ab März für die Skitourensaison offen.
Dass die Lawine aber mit einer solchen Intensität bis zur Hütte vorstossen würde, hat auch Margreth überrascht. Und irgendwie dann doch wieder nicht. «Denn durch das schmelzende Eis wurden viele Hangflächen freigelegt, die steiler als 30 Grad sind.» Das bedeutet: Grössere Mengen Schnee können ins Rutschen geraten. Stefan Margreth vom SLF hat errechnet, dass sich die Kraft der Lawine oberhalb der Trifthütte seit 1995 mehr als verdoppelt hat.
Nicole Naue war die Hüttenwartin, die die Reste der Trifthütte zusammensammeln musste. Das TV-Publikum schaute ihr dabei zu. Natur gegen Zivilisation. Im hochalpinen Gebirge herrschen noch immer klare Verhältnisse. Natürlich habe das wehgetan, sagt Naue heute. «Immerhin haben wir dort oben sieben Jahre verbracht.» Sie hätten das Beste draus gemacht, temporäre Jurten aufgebaut, noch einmal Gäste empfangen. Danach war dann Schluss. Zu unsicher ist der Standort mittlerweile. Noch heute ist die Trifthütte geschlossen, die Zukunft: unklar. Nicole Naue wird mit ihrer Familie vorerst nicht zurückkehren können.
Als sie dann kürzlich von der Schliessung der Mutthornhütte hörte, kam bei ihr noch einmal alles hoch. «Es war ein Déjà-vu.» Nicole Naue fühlt mit den beiden mit, die am Mutthorn während 18 Jahren gewirtet haben. «Eine solche Hütte ist ja wie eine zweite Heimat.» Wie es mit der Trifthütte weitergeht, ist noch offen. Die Zukunft der Mutthornhütte: ebenfalls ungewiss. Die SAC-Sektion denkt über einen neuen Standort nach, es gibt in der Nähe mehrere potenzielle Stellen.
Geologe Hans-Rudolf Keusen sagt: «Viele Faktoren müssen dort zusammenpassen. Das wird herausfordernd.»
Letzte Option «Haus-Züglete»
Das Szenario von der Mutthornhütte dürfte auch an anderen Standorten in nächster Zukunft durchgespielt werden müssen. Auch wenn für Stefan Margreth vom SLF eine «Haus-Züglete» die letzte Option sein sollte. «Denn das ist natürlich die teuerste Massnahme.»
Vorher gebe es diverse Möglichkeiten des Objektschutzes: verstärkte Betonmauer auf der Bergseite, Anbauten. Zudem könne das Platzieren von Schutzkeilen und Wällen für mehr Sicherheit sorgen. «Wir sind nicht machtlos», sagt Margreth.
Der SAC geht von Investitionen von über neun Millionen Franken aus; Geld, das der Alpen-Club in naher Zukunft aufwenden muss, um die Hütten zu sichern. «Es bleibt komplex, denn da ist auch noch die Sache mit dem Wasser.» Stefan Margreth spricht von der sowieso komplexen Frage der Wasserversorgung für die Hütten. Die Gletscher, die Süsswasserquelle vieler Hütten, stehen auch hier am Ursprung.
Für Nicole Naue wird es genug Wasser geben. Sie verlässt den hochalpinen Raum. Statt der Trifthütte auf 2520 Meter bewirtet sie mit ihrem Mann neu die Chamanna Cluozza im Schweizer Nationalpark. Grünes Engadin, 1882 Meter über Meer. Lärchen und Arven bieten Schutz. Und ein grosser Wall gegen einen möglichen Murgang.
Yann Cherix, 30.05.2022
https://www.zsz.ch/wenn-die-sac-huet...-957604882495?
Beim Berner Mutthorn bricht der Berg weg. Die SAC-Hütte darunter musste geschlossen werden – auch bei anderen Hütten steigt die Gefahr.
Er misst die Unsicherheit schon seit über zehn Jahren. Diese unsicheren 100’000 Kubikmeter Berner Fels an der Walliser Kantonsgrenze. 1600 Lastwagenladungen Gestein. In einem Rumms könnten sie von der Ostflanke des Mutthorns niedergehen. Wann genau, weiss niemand, vielleicht am ehesten noch Hans-Rudolf Keusen.
Der Geologe glaubt, dass das sehr bald der Fall sein wird. «Eigentlich habe ich es auf Ende letzten Dezember erwartet», sagt er. Zu viel Bewegung mass er dort, zu viel Unsicherheit. «In den letzten Jahren haben sich die Risse am Mutthorn jeweils um bis zu sechs Zentimeter vergrössert. In letzter Zeit hat sich das sogar noch stark beschleunigt.»
Permafrost lockert seinen eisigen Griff
Im Auftrag des Schweizerischen Alpen-Club (SAC) nimmt Keusen die Messungen vor. Der SAC will von ihm wissen, was sich am Mutthorn tut. Denn darunter hat der SAC eine Hütte. Auf 2901 Metern über Meer. Spektakulär zwischen Kanderfirn und Tschingelgletscher gelegen, mit Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Sieben Stunden Aufstieg. 100 Schlafplätze. Nun steht dieses steinige Refugium mitten in der Gefahrenzone. Denn weiter oben lockert der Permafrost seinen eisigen Griff.
Gefahr droht auch von unten. Der Sockel, auf dem die Terrasse der Mutthornhütte steht, rutscht weg. Das Gletschereis, das den Felsen stützte, hat sich zurückgezogen.
Darum wurde die Mutthornhütte geschlossen. Zum ersten Mal seit 127 Jahren. «Es war leider eine zwingende, unausweichliche Entscheidung», sagt Hans-Rudolf Keusen. «Wir hätten das nicht mehr verantworten können.»
Die Schliessung der kleinen Hütte hat viel mit dem Grossen zu tun. Der Klimawandel lässt durch die höheren Temperaturen die Gletscher schmelzen, den Permafrost auftauen. Der Alpenraum wandelt sich dramatisch, das ist nicht neu. Aber auch ein Experte wie Stefan Margreth staunt noch immer, wie schnell alles geht. «In nur 40 Jahren haben sich die Bedingungen für die SAC-Hütten, die oftmals an exponierten, extremen Lagen stehen, zum Teil massiv verändert.»
Margreth forscht seit den 80er-Jahren am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos. Und er hat für den Alpen-Club 2018 eine viel beachtete Studie geleitet. Darin legt der Bauingenieur dar, dass von insgesamt 153 Hütten fast jede fünfte unmittelbar durch Lawinen gefährdet ist und Handlungsbedarf besteht. Bei weiteren 37 besteht eine mögliche Gefährdung. «Ja, in all diesen Fällen muss man die Gefahren sehr ernst nehmen», sagt Stefan Margreth. Aber alarmistisch will der Lawinenforscher nicht sein.
Es könne an einzelnen, tiefer gelegenen Standorten durchaus sein, dass es durch den Klimawandel sogar sicherer werde. Der Winter werde kürzer, die Schneedecke wärmer und damit die Lawine kürzer. «Sicher ist aber, dass die Klimaerwärmung uns noch stark beschäftigen wird. Denn man muss jetzt jeden einzelnen Hüttenstandort nochmals ganz genau anschauen.»
Jedes Jahr einen Meter Eis weniger
Ein Standort, den Margreth besonders gut kennt, liegt am Eck der drei Kantone Wallis, Uri und Bern. Die Trifthütte. 2520 Meter über Meer. Knapp fünf Stunden Aufstieg. 62 Schlafplätze. Den Gletscher am darüberliegenden Hintertierberg hat der Lawinenexperte mehrmals untersucht und gesehen, dass die Eisdicke in nur 25 Jahren um 25 Meter abgenommen hat. Jedes Jahr ein Meter weniger Eis.
Was das für Auswirkungen haben kann, erfuhr die Öffentlichkeit unmittelbar und bildstark. Die SRF-Sendung «Hüttengeschichten» hatte die Trifthütte über Monate hinweg immer wieder besucht – um dann plötzlich von einer Katastrophe berichten zu müssen. Eine Schneelawine hatte Teile der Hütte zerstört, eine daneben liegende Holzhütte mit 20 Schlafplätzen zerhäckselt. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt im Januar 2021 unbewohnt, die Trifthütte ist erst ab März für die Skitourensaison offen.
Dass die Lawine aber mit einer solchen Intensität bis zur Hütte vorstossen würde, hat auch Margreth überrascht. Und irgendwie dann doch wieder nicht. «Denn durch das schmelzende Eis wurden viele Hangflächen freigelegt, die steiler als 30 Grad sind.» Das bedeutet: Grössere Mengen Schnee können ins Rutschen geraten. Stefan Margreth vom SLF hat errechnet, dass sich die Kraft der Lawine oberhalb der Trifthütte seit 1995 mehr als verdoppelt hat.
Nicole Naue war die Hüttenwartin, die die Reste der Trifthütte zusammensammeln musste. Das TV-Publikum schaute ihr dabei zu. Natur gegen Zivilisation. Im hochalpinen Gebirge herrschen noch immer klare Verhältnisse. Natürlich habe das wehgetan, sagt Naue heute. «Immerhin haben wir dort oben sieben Jahre verbracht.» Sie hätten das Beste draus gemacht, temporäre Jurten aufgebaut, noch einmal Gäste empfangen. Danach war dann Schluss. Zu unsicher ist der Standort mittlerweile. Noch heute ist die Trifthütte geschlossen, die Zukunft: unklar. Nicole Naue wird mit ihrer Familie vorerst nicht zurückkehren können.
Als sie dann kürzlich von der Schliessung der Mutthornhütte hörte, kam bei ihr noch einmal alles hoch. «Es war ein Déjà-vu.» Nicole Naue fühlt mit den beiden mit, die am Mutthorn während 18 Jahren gewirtet haben. «Eine solche Hütte ist ja wie eine zweite Heimat.» Wie es mit der Trifthütte weitergeht, ist noch offen. Die Zukunft der Mutthornhütte: ebenfalls ungewiss. Die SAC-Sektion denkt über einen neuen Standort nach, es gibt in der Nähe mehrere potenzielle Stellen.
Geologe Hans-Rudolf Keusen sagt: «Viele Faktoren müssen dort zusammenpassen. Das wird herausfordernd.»
Letzte Option «Haus-Züglete»
Das Szenario von der Mutthornhütte dürfte auch an anderen Standorten in nächster Zukunft durchgespielt werden müssen. Auch wenn für Stefan Margreth vom SLF eine «Haus-Züglete» die letzte Option sein sollte. «Denn das ist natürlich die teuerste Massnahme.»
Vorher gebe es diverse Möglichkeiten des Objektschutzes: verstärkte Betonmauer auf der Bergseite, Anbauten. Zudem könne das Platzieren von Schutzkeilen und Wällen für mehr Sicherheit sorgen. «Wir sind nicht machtlos», sagt Margreth.
Der SAC geht von Investitionen von über neun Millionen Franken aus; Geld, das der Alpen-Club in naher Zukunft aufwenden muss, um die Hütten zu sichern. «Es bleibt komplex, denn da ist auch noch die Sache mit dem Wasser.» Stefan Margreth spricht von der sowieso komplexen Frage der Wasserversorgung für die Hütten. Die Gletscher, die Süsswasserquelle vieler Hütten, stehen auch hier am Ursprung.
Für Nicole Naue wird es genug Wasser geben. Sie verlässt den hochalpinen Raum. Statt der Trifthütte auf 2520 Meter bewirtet sie mit ihrem Mann neu die Chamanna Cluozza im Schweizer Nationalpark. Grünes Engadin, 1882 Meter über Meer. Lärchen und Arven bieten Schutz. Und ein grosser Wall gegen einen möglichen Murgang.
Yann Cherix, 30.05.2022
https://www.zsz.ch/wenn-die-sac-huet...-957604882495?
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