JAPANISCHE ALPEN - Wie die Schweiz, nur anders
Spektakuläre Abgründe, menschenleere Gipfel: Das Daikiretto in den Japanischen Alpen gilt als Herausforderung für jeden Bergsteiger. Stahlketten und Leitern müssen auf Hunderten von Höhenmetern bezwungen werden - doch manchmal wartet das echte Abenteuer beim Abendessen.
Die Reaktion ist jedes Mal die gleiche: Mit großen Augen gibt der Zuhörer ein langgestrecktes "Ooooooh" von sich, dreht sich dann zu den Umstehenden, schnattert etwas auf Japanisch, während er auf den ausländischen Wanderer deutet. Mit respektvollem Kopfnicken und einem feierlichen Chor aus "Oooooohs" in verschiedenen Tonhöhen bringt dann auch die Gruppe ihre Bewunderung zum Ausdruck.
Das Daikiretto ist eine Kletterpassage in den Japanischen Alpen, dessen bloße Erwähnung mich in den Augen der Zuhörer auf eine Stufe mit Reinhold Messner und Co. zu rücken scheint. Sie ist Teil einer Gratwanderung, auf der an einem Tag insgesamt sechs Dreitausender-Gipfel zu bezwingen sind.
Das klingt nach einer anstrengenden Tour, wie gut, dass am Vorabend in der Yari-Dake-Sanso-Berghütte auf 3060 Meter Höhe noch ein herzhaftes Abendessen serviert wird. Es gibt Teriyaki-Huhn, Misosuppe, Klöße, Krautsalat, Reis und das berühmt-berüchtigte Natto - das sind fermentierte Sojabohnen, die auf dem Weg zum Mund klebrige bräunliche Fäden nach sich ziehen und so sauer schmecken, dass sie nicht ohne Grimasse essbar sind. Bisher hatte ich vor Natto mehr Respekt als vor irgendwelchen japanischen Wanderrouten, doch die "Ooooohs" der Bergsteiger am Abendbrottisch sind alles andere als beruhigend.
Schon im Tal, beim Start der insgesamt drei Tage dauernden Rundtour, musste man im kleinen Resort-Örtchen Kamikochi das Gefühl bekommen, es hier mit besonderen Herausforderungen am Berg zu tun zu haben. Die Wanderergruppen mit bunten Regenhosen, massiven Wanderschuhen, Höhenmessuhren und Glöckchen zum Verjagen von Bären wirkten so, als würden sie eine mehrwöchige Himalaja-Trekkingtour in Angriff nehmen.
Dabei laufen die meisten lediglich vom Hotel zum Aussichtspunkt auf der Kappa-Bashi-Brücke - eine Strecke von weniger als einem Kilometer. Die Tagestouristen blickten befremdet auf den einzigen Nicht-Japaner weit und breit, der im leichten Nieselregen mit Daypack und Knirps-Regenschirm an ihnen vorbeilief.
Schlafen mit Mütze
In den unbeheizten Gästezimmern der Yari-Hütte endet der Abend früh. Um halb neun geht das Licht aus. Ich schlafe mit Mütze, Socken und Handschuhen, weil die Decke nur wenig Wärme spendet. Jeder Gast hat eine etwa 80 Zentimeter breite Matratze, insgesamt 650 Bergsteiger können hier unterkommen. Abgewiesen wird jedoch niemand: Wenn doppelt so viele Wanderer da sind, müssen sie eben näher zusammenrücken, was auch das Kälteproblem löst.
Der Grund, dass hier eine Hütte für Hunderte Menschen steht, ist der Yari, einer der populärsten Berge Japans. Wie ein Haifischzahn ragt der Gipfelzacken auf 3180 Meter empor, laut Wanderführer ist im Morgengrauen manchmal "halb Tokio zum Gipfel unterwegs", um dort den Sonnenaufgang mit Blick auf den Fuji am Horizont zu erleben. Das Gerücht, dass es deshalb an den Klettersteigen und Leitern Verkehrsampeln gibt, bestätigt sich jedoch nicht. Und auf dem Yari-Gipfel ist kein Mensch, anscheinend hat der Regen vom Vortag andere Gipfelstürmer abgeschreckt.
Gerüchte über besonders spektakuläre Sonnenaufgänge dagegen sind absolut berechtigt. Zunächst ist da ein orangefarbener Streifen am Himmel, und wie eine Pyramide mit abgesägter Spitze zeichnet sich die perfekte Form des Fuji am Horizont ab. Über den benachbarten Bergen kräuselt sich ein Meer aus Wolken, während die Sonne einen Gipfel nach dem anderen in gleißendes Licht taucht.
Dankbar für jeden Kreis
Ich habe noch viel vor heute, deshalb geht es zügig wieder bergab, vorbei an der Hütte und nach Süden, auf die steinigen Dreitausender-Gipfel Obami-Dake, Naka-Dake und Minami-Dake. Ein gemütlicher Morgenspaziergang ist das - bis zu dem schief stehenden Holzschild, auf dem in roten Schriftzeichen "Daikiretto" steht. Schon der Name der Kletterpassage klingt nach Gefahr und Bedrohung, übersetzt bedeutet es "Der große Schnitt".
Von hier an geht es bergab durch eine Furche aus lockerem Geröll, knapp 300 Höhenmeter abwärts, dann fast 400 hoch. Die einzige Vegetation sind gelbliche Grasbüschel. Weiße Kreise kennzeichnen die Route, Kreuze bedeuten: "Sofort umkehren". Auf dem grauen Fels wimmelt es derartig von Markierungen, als hätten hier die lokalen Shinto-Gottheiten wochenlang Tic Tac Toe gespielt. Doch als leichter Nebel aufkommt, bin ich dankbar für jeden Kreis.
Außer ein paar Alpenschneehühnern und einem Erdhörnchen begegnen mir keine Lebewesen. Als ich an die Bärenglocken der Tagesausflügler denke, bin ich eigentlich ganz froh darüber. Zu hören sind nur der Wind und die Wasserfälle im Tal.
Die Route ist voller senkrechter Leitern und Klettersteige und führt an Stahlketten entlang über Grate, an deren Seiten es Hunderte Meter in den Abgrund geht. Das ist nichts für Menschen mit Höhenangst, doch wer ein bisschen alpine Erfahrung hat, kann hier ohne Kletterausrüstung eine der spektakulärsten Berglandschaften Japans erleben.
Der große Respekt der Japaner für das Wegstück hängt wohl damit zusammen, dass immer wieder Alpen-Neulinge ihre Kräfte überschätzen und in Gefahr geraten. Schnelle Wetterumschwünge sind häufig, Schnee und Wind können die Route enorm erschweren. Und die Felsstürze deuten darauf hin, dass hier häufig Steinlawinen herabdonnern. Doch für einen Reinhold Messner wäre der "große Schnitt" vermutlich ein entspannter Morgenspaziergang.
Nach knapp zwei Stunden Plackerei erreiche ich den Endpunkt des Daikiretto, die Kita-Hotaka-Hütte auf 3106 Metern. "Das ist doch wie in den Schweizer Alpen, oder?", fragt ein braungebrannter, etwa 50-jähriger Wanderer mit weißem Vollbart. Er trägt eine lila Nike-Kappe und ein orangefarbenes Halsband und prostet mir mit einer Dose Löwenbräu zu, die er in der Hütte gekauft hat.
Der Mann aus Tokio erzählt, dass im 19. Jahrhundert erst ein Europäer kommen musste, um die Japaner fürs Bergsteigen zu begeistern. Zu Ehren des britischen Missionars Walter Weston, des offiziellen Erstbesteigers vieler der hiesigen Berge, wird in Kamikochi jedes Jahr im Juni ein großes Fest gefeiert.
Betend und singend zum Gipfel
Doch in Wirklichkeit waren die Japaner zuerst da: "Oft wird vergessen, dass wandernde Mönche schon viel früher auf den Gipfeln waren", sagt der Mann, der als Berater in der Gesundheitsindustrie arbeitet. Manche hätten wochenlang in Felshöhlen gelebt und seien singend und betend auf den Yari und die umliegenden Hakata-Berge gestiegen. Dass die Berge nun Alpen heißen, ist allerdings Weston zu verdanken.
Ich bedanke mich für das Gespräch, er bedankt sich dafür, dass mir die japanischen Berge gefallen, und nach einer ziemlich unschweizerischen Verbeugung zum Abschied stapfe ich zurück zu den Wegmarkierungen in Richtung Tagesziel, der Hotaka-Dake-sanso-Hütte. Auch hier bieten die Zimmer trotz saftiger Preise wenig Wärme - knapp 60 Euro kostet eine Übernachtung inklusive Abendessen und Frühstück. Beheizt sind hier nur der Aufenthaltsraum, in dem sich Bergsteiger um einen Ofen drängen, und die Toilettensitze.
Die Wanderschuhe bleiben am Eingang, in den Räumen stehen, wie in Japan üblich, diverse Hausschuhe für die Gäste bereit: Hausschlappen, Draußenschlappen und Kloschlappen. Wehe, man befolgt die Schuh-Vorschriften nicht, da können selbst reservierte Japaner zu schimpfenden Furien werden. Zum Abendessen gibt es rohen Fisch, Reis und klebriges Natto. Und spätestens wenn die säuerlich-bitteren Sojabohnen über die Geschmacksnerven herfallen, weiß man wieder: Die Schweizer Alpen sind ziemlich weit weg.
Quelle: Spiegel.de
Fotostrecke von den japanischen Alpen: KLICK
Spektakuläre Abgründe, menschenleere Gipfel: Das Daikiretto in den Japanischen Alpen gilt als Herausforderung für jeden Bergsteiger. Stahlketten und Leitern müssen auf Hunderten von Höhenmetern bezwungen werden - doch manchmal wartet das echte Abenteuer beim Abendessen.
Die Reaktion ist jedes Mal die gleiche: Mit großen Augen gibt der Zuhörer ein langgestrecktes "Ooooooh" von sich, dreht sich dann zu den Umstehenden, schnattert etwas auf Japanisch, während er auf den ausländischen Wanderer deutet. Mit respektvollem Kopfnicken und einem feierlichen Chor aus "Oooooohs" in verschiedenen Tonhöhen bringt dann auch die Gruppe ihre Bewunderung zum Ausdruck.
Das Daikiretto ist eine Kletterpassage in den Japanischen Alpen, dessen bloße Erwähnung mich in den Augen der Zuhörer auf eine Stufe mit Reinhold Messner und Co. zu rücken scheint. Sie ist Teil einer Gratwanderung, auf der an einem Tag insgesamt sechs Dreitausender-Gipfel zu bezwingen sind.
Das klingt nach einer anstrengenden Tour, wie gut, dass am Vorabend in der Yari-Dake-Sanso-Berghütte auf 3060 Meter Höhe noch ein herzhaftes Abendessen serviert wird. Es gibt Teriyaki-Huhn, Misosuppe, Klöße, Krautsalat, Reis und das berühmt-berüchtigte Natto - das sind fermentierte Sojabohnen, die auf dem Weg zum Mund klebrige bräunliche Fäden nach sich ziehen und so sauer schmecken, dass sie nicht ohne Grimasse essbar sind. Bisher hatte ich vor Natto mehr Respekt als vor irgendwelchen japanischen Wanderrouten, doch die "Ooooohs" der Bergsteiger am Abendbrottisch sind alles andere als beruhigend.
Schon im Tal, beim Start der insgesamt drei Tage dauernden Rundtour, musste man im kleinen Resort-Örtchen Kamikochi das Gefühl bekommen, es hier mit besonderen Herausforderungen am Berg zu tun zu haben. Die Wanderergruppen mit bunten Regenhosen, massiven Wanderschuhen, Höhenmessuhren und Glöckchen zum Verjagen von Bären wirkten so, als würden sie eine mehrwöchige Himalaja-Trekkingtour in Angriff nehmen.
Dabei laufen die meisten lediglich vom Hotel zum Aussichtspunkt auf der Kappa-Bashi-Brücke - eine Strecke von weniger als einem Kilometer. Die Tagestouristen blickten befremdet auf den einzigen Nicht-Japaner weit und breit, der im leichten Nieselregen mit Daypack und Knirps-Regenschirm an ihnen vorbeilief.
Schlafen mit Mütze
In den unbeheizten Gästezimmern der Yari-Hütte endet der Abend früh. Um halb neun geht das Licht aus. Ich schlafe mit Mütze, Socken und Handschuhen, weil die Decke nur wenig Wärme spendet. Jeder Gast hat eine etwa 80 Zentimeter breite Matratze, insgesamt 650 Bergsteiger können hier unterkommen. Abgewiesen wird jedoch niemand: Wenn doppelt so viele Wanderer da sind, müssen sie eben näher zusammenrücken, was auch das Kälteproblem löst.
Der Grund, dass hier eine Hütte für Hunderte Menschen steht, ist der Yari, einer der populärsten Berge Japans. Wie ein Haifischzahn ragt der Gipfelzacken auf 3180 Meter empor, laut Wanderführer ist im Morgengrauen manchmal "halb Tokio zum Gipfel unterwegs", um dort den Sonnenaufgang mit Blick auf den Fuji am Horizont zu erleben. Das Gerücht, dass es deshalb an den Klettersteigen und Leitern Verkehrsampeln gibt, bestätigt sich jedoch nicht. Und auf dem Yari-Gipfel ist kein Mensch, anscheinend hat der Regen vom Vortag andere Gipfelstürmer abgeschreckt.
Gerüchte über besonders spektakuläre Sonnenaufgänge dagegen sind absolut berechtigt. Zunächst ist da ein orangefarbener Streifen am Himmel, und wie eine Pyramide mit abgesägter Spitze zeichnet sich die perfekte Form des Fuji am Horizont ab. Über den benachbarten Bergen kräuselt sich ein Meer aus Wolken, während die Sonne einen Gipfel nach dem anderen in gleißendes Licht taucht.
Dankbar für jeden Kreis
Ich habe noch viel vor heute, deshalb geht es zügig wieder bergab, vorbei an der Hütte und nach Süden, auf die steinigen Dreitausender-Gipfel Obami-Dake, Naka-Dake und Minami-Dake. Ein gemütlicher Morgenspaziergang ist das - bis zu dem schief stehenden Holzschild, auf dem in roten Schriftzeichen "Daikiretto" steht. Schon der Name der Kletterpassage klingt nach Gefahr und Bedrohung, übersetzt bedeutet es "Der große Schnitt".
Von hier an geht es bergab durch eine Furche aus lockerem Geröll, knapp 300 Höhenmeter abwärts, dann fast 400 hoch. Die einzige Vegetation sind gelbliche Grasbüschel. Weiße Kreise kennzeichnen die Route, Kreuze bedeuten: "Sofort umkehren". Auf dem grauen Fels wimmelt es derartig von Markierungen, als hätten hier die lokalen Shinto-Gottheiten wochenlang Tic Tac Toe gespielt. Doch als leichter Nebel aufkommt, bin ich dankbar für jeden Kreis.
Außer ein paar Alpenschneehühnern und einem Erdhörnchen begegnen mir keine Lebewesen. Als ich an die Bärenglocken der Tagesausflügler denke, bin ich eigentlich ganz froh darüber. Zu hören sind nur der Wind und die Wasserfälle im Tal.
Die Route ist voller senkrechter Leitern und Klettersteige und führt an Stahlketten entlang über Grate, an deren Seiten es Hunderte Meter in den Abgrund geht. Das ist nichts für Menschen mit Höhenangst, doch wer ein bisschen alpine Erfahrung hat, kann hier ohne Kletterausrüstung eine der spektakulärsten Berglandschaften Japans erleben.
Der große Respekt der Japaner für das Wegstück hängt wohl damit zusammen, dass immer wieder Alpen-Neulinge ihre Kräfte überschätzen und in Gefahr geraten. Schnelle Wetterumschwünge sind häufig, Schnee und Wind können die Route enorm erschweren. Und die Felsstürze deuten darauf hin, dass hier häufig Steinlawinen herabdonnern. Doch für einen Reinhold Messner wäre der "große Schnitt" vermutlich ein entspannter Morgenspaziergang.
Nach knapp zwei Stunden Plackerei erreiche ich den Endpunkt des Daikiretto, die Kita-Hotaka-Hütte auf 3106 Metern. "Das ist doch wie in den Schweizer Alpen, oder?", fragt ein braungebrannter, etwa 50-jähriger Wanderer mit weißem Vollbart. Er trägt eine lila Nike-Kappe und ein orangefarbenes Halsband und prostet mir mit einer Dose Löwenbräu zu, die er in der Hütte gekauft hat.
Der Mann aus Tokio erzählt, dass im 19. Jahrhundert erst ein Europäer kommen musste, um die Japaner fürs Bergsteigen zu begeistern. Zu Ehren des britischen Missionars Walter Weston, des offiziellen Erstbesteigers vieler der hiesigen Berge, wird in Kamikochi jedes Jahr im Juni ein großes Fest gefeiert.
Betend und singend zum Gipfel
Doch in Wirklichkeit waren die Japaner zuerst da: "Oft wird vergessen, dass wandernde Mönche schon viel früher auf den Gipfeln waren", sagt der Mann, der als Berater in der Gesundheitsindustrie arbeitet. Manche hätten wochenlang in Felshöhlen gelebt und seien singend und betend auf den Yari und die umliegenden Hakata-Berge gestiegen. Dass die Berge nun Alpen heißen, ist allerdings Weston zu verdanken.
Ich bedanke mich für das Gespräch, er bedankt sich dafür, dass mir die japanischen Berge gefallen, und nach einer ziemlich unschweizerischen Verbeugung zum Abschied stapfe ich zurück zu den Wegmarkierungen in Richtung Tagesziel, der Hotaka-Dake-sanso-Hütte. Auch hier bieten die Zimmer trotz saftiger Preise wenig Wärme - knapp 60 Euro kostet eine Übernachtung inklusive Abendessen und Frühstück. Beheizt sind hier nur der Aufenthaltsraum, in dem sich Bergsteiger um einen Ofen drängen, und die Toilettensitze.
Die Wanderschuhe bleiben am Eingang, in den Räumen stehen, wie in Japan üblich, diverse Hausschuhe für die Gäste bereit: Hausschlappen, Draußenschlappen und Kloschlappen. Wehe, man befolgt die Schuh-Vorschriften nicht, da können selbst reservierte Japaner zu schimpfenden Furien werden. Zum Abendessen gibt es rohen Fisch, Reis und klebriges Natto. Und spätestens wenn die säuerlich-bitteren Sojabohnen über die Geschmacksnerven herfallen, weiß man wieder: Die Schweizer Alpen sind ziemlich weit weg.
Quelle: Spiegel.de
Fotostrecke von den japanischen Alpen: KLICK
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