Eis-Simulation: Gletscher-Unglück nach 88 Jahren aufgeklärt
Von Holger Dambeck
Im März 1926 verschwanden vier Männer bei einer Tour auf dem Schweizer Aletschgletscher. Erst 2012 fand man ihre sterblichen Überreste. Dank einer aufwendigen Simulation der Eisbewegung wissen Forscher nun, wo und warum die Männer verunglückten.
Gletscher sind gefährliche Orte. Das weiß jeder Bergsteiger. In großen Höhen kann das Wetter schnell umschlagen. Zudem drohen Lawinenabgänge und Stürze in versteckte Gletscherspalten. Immer wieder verunglücken Menschen an Gletschern - allein in der Schweiz wurden von 1992 bis 2013 acht Todesopfer gezählt. Mitunter werden die Opfer nicht einmal gefunden, die mächtigen Eismassen haben sie verschluckt.
Forschern ist es nun gelungen, ein fast hundert Jahre zurückliegendes Gletscherunglück aufzuklären. Am Morgen des 4. März 1926 waren vier junge Männer zum Aletschgletscher in den Schweizer Alpen aufgebrochen. Mittags erreichten sie die Hollandiahütte in mehr als 3200 Metern Höhe.
Danach brachen sie zu einer Tour zum Konkordiaplatz auf, eine nur wenig geneigte, mehrere Quadratkilometer große Eisfläche, die auch der Ursprung des Großen Aletschgletschers ist. Am Nachmittag kam es dann zu einem heftigen Schneesturm, und die vier Männer blieben verschollen. Erst 2012 entdeckte man die sterblichen Überreste von drei der vier Männer, zudem Ausrüstungsgegenstände. Allerdings nicht oben am Konkordiaplatz. Das Eis hatte die Leichen 10,5 Kilometer gletscherabwärts wieder freigegeben.
Der Mathematiker Guillaume Jouvet von der Freien Universität Berlin hat nun gemeinsam mit dem Glaziologen Martin Funk von der ETH Zürich die mutmaßliche Ursache des Unglücks rekonstruiert. Die Forscher nutzten dazu eine aufwendige Simulation des Aletschgletschers, welche die Bewegungen des Eises virtuell nachbildet. Gletscher sind nicht statisch, sie befinden sich vielmehr permanent im Fluss. Ganz oben verdichtet sich gefallener Schnee zu Eis - und dieses gleitet dann wie eine träge Flüssigkeit langsam ins Tal.
Mit 122 Metern pro Jahr talabwärts
Anhand der Stelle, wo das Eis 2012 die sterblichen Überreste freigegeben hatte, konnten die Wissenschaftler den Ort eingrenzen, an dem die vier Männer 88 Jahre zuvor verunglückt sein müssen: eine 1600 mal 300 Meter große Fläche etwa einen Kilometer nördlich der Hollandiahütte.
"Unsere Ergebnisse legen nah, dass der Tod weder auf eine Lawine noch auf einer Gletscherspalte zurückgeht", schreiben die Forscher im Fachblatt "Journal of Glaciology". Stattdessen hätten die vier Männer wegen des schlechten Wetters die Orientierung verloren und seien wohl erfroren. Die Körper seien dann mit durchschnittlich 122 Metern pro Jahr etwa 10,5 Kilometer vom Eis transportiert worden.
Einen gleichzeitigen Sturz aller vier Männer in eine Gletscherspalte halten die Wissenschaftler für unwahrscheinlich. Sollten sie durch eine Lawine zu Tode gekommen sein, hätte man ihre sterblichen Reste nicht so nah beieinander finden können, weil der rutschende Schnee diese wohl großflächig verteilt hätte. Daher sei Tod durch Erfrieren am wahrscheinlichsten, schreiben die Forscher. Dafür spreche auch, dass der berechnete Unglücksort nicht auf dem Weg zwischen Hütte und Konkordiaplatz liege. Die Männer müssten sich daher im Schneesturm verirrt haben.
Jouvet arbeitet bereits seit Jahren an der Simulation des Aletschgletschers, mit mehr als zehn Kilometern Länge der größte der Alpen. 2010 hatte er gemeinsam mit Funk ein Modell entwickelt, das die Dynamik des Eises mit einer vereinfachten Variante der Navier-Stokes-Gleichungen beschreibt, die für Flüssigkeiten und Gase entwickelt wurden. Der Gletscher ist in dem Modell durch Gitterpunkte dargestellt, an denen die Fließgeschwindigkeit und Fließrichtung des Eises berechnet wird. Die Auflösung der Gitterpunkte liegt bei rund 20 Metern.
"Die Geometrie des Gletschers verändert sich jedes Jahr - das müssen wir bei den Simulationen berücksichtigen", erklärt Jouvet. Zum Glück gebe es zum Aletschgletscher aber viele historische Daten, so dass eine präzise Simulation der Eisbewegung möglich gewesen sei. Ursprünglich ging es den Forschern darum, das Schrumpfen des Eises infolge des Klimawandels besser zu verstehen. Die Rekonstruktion des Unglücks von 1926 ist also ein Nebenprodukt der aufwendigen Gletschermodellierung. Vom vierten Opfer fehlt allerdings bislang jede Spur.
Quelle: http://www.spiegel.de/wissenschaft/n...a-953919.html; dort sind auch einige Bilder zu sehen.
Von Holger Dambeck
Im März 1926 verschwanden vier Männer bei einer Tour auf dem Schweizer Aletschgletscher. Erst 2012 fand man ihre sterblichen Überreste. Dank einer aufwendigen Simulation der Eisbewegung wissen Forscher nun, wo und warum die Männer verunglückten.
Gletscher sind gefährliche Orte. Das weiß jeder Bergsteiger. In großen Höhen kann das Wetter schnell umschlagen. Zudem drohen Lawinenabgänge und Stürze in versteckte Gletscherspalten. Immer wieder verunglücken Menschen an Gletschern - allein in der Schweiz wurden von 1992 bis 2013 acht Todesopfer gezählt. Mitunter werden die Opfer nicht einmal gefunden, die mächtigen Eismassen haben sie verschluckt.
Forschern ist es nun gelungen, ein fast hundert Jahre zurückliegendes Gletscherunglück aufzuklären. Am Morgen des 4. März 1926 waren vier junge Männer zum Aletschgletscher in den Schweizer Alpen aufgebrochen. Mittags erreichten sie die Hollandiahütte in mehr als 3200 Metern Höhe.
Danach brachen sie zu einer Tour zum Konkordiaplatz auf, eine nur wenig geneigte, mehrere Quadratkilometer große Eisfläche, die auch der Ursprung des Großen Aletschgletschers ist. Am Nachmittag kam es dann zu einem heftigen Schneesturm, und die vier Männer blieben verschollen. Erst 2012 entdeckte man die sterblichen Überreste von drei der vier Männer, zudem Ausrüstungsgegenstände. Allerdings nicht oben am Konkordiaplatz. Das Eis hatte die Leichen 10,5 Kilometer gletscherabwärts wieder freigegeben.
Der Mathematiker Guillaume Jouvet von der Freien Universität Berlin hat nun gemeinsam mit dem Glaziologen Martin Funk von der ETH Zürich die mutmaßliche Ursache des Unglücks rekonstruiert. Die Forscher nutzten dazu eine aufwendige Simulation des Aletschgletschers, welche die Bewegungen des Eises virtuell nachbildet. Gletscher sind nicht statisch, sie befinden sich vielmehr permanent im Fluss. Ganz oben verdichtet sich gefallener Schnee zu Eis - und dieses gleitet dann wie eine träge Flüssigkeit langsam ins Tal.
Mit 122 Metern pro Jahr talabwärts
Anhand der Stelle, wo das Eis 2012 die sterblichen Überreste freigegeben hatte, konnten die Wissenschaftler den Ort eingrenzen, an dem die vier Männer 88 Jahre zuvor verunglückt sein müssen: eine 1600 mal 300 Meter große Fläche etwa einen Kilometer nördlich der Hollandiahütte.
"Unsere Ergebnisse legen nah, dass der Tod weder auf eine Lawine noch auf einer Gletscherspalte zurückgeht", schreiben die Forscher im Fachblatt "Journal of Glaciology". Stattdessen hätten die vier Männer wegen des schlechten Wetters die Orientierung verloren und seien wohl erfroren. Die Körper seien dann mit durchschnittlich 122 Metern pro Jahr etwa 10,5 Kilometer vom Eis transportiert worden.
Einen gleichzeitigen Sturz aller vier Männer in eine Gletscherspalte halten die Wissenschaftler für unwahrscheinlich. Sollten sie durch eine Lawine zu Tode gekommen sein, hätte man ihre sterblichen Reste nicht so nah beieinander finden können, weil der rutschende Schnee diese wohl großflächig verteilt hätte. Daher sei Tod durch Erfrieren am wahrscheinlichsten, schreiben die Forscher. Dafür spreche auch, dass der berechnete Unglücksort nicht auf dem Weg zwischen Hütte und Konkordiaplatz liege. Die Männer müssten sich daher im Schneesturm verirrt haben.
Jouvet arbeitet bereits seit Jahren an der Simulation des Aletschgletschers, mit mehr als zehn Kilometern Länge der größte der Alpen. 2010 hatte er gemeinsam mit Funk ein Modell entwickelt, das die Dynamik des Eises mit einer vereinfachten Variante der Navier-Stokes-Gleichungen beschreibt, die für Flüssigkeiten und Gase entwickelt wurden. Der Gletscher ist in dem Modell durch Gitterpunkte dargestellt, an denen die Fließgeschwindigkeit und Fließrichtung des Eises berechnet wird. Die Auflösung der Gitterpunkte liegt bei rund 20 Metern.
"Die Geometrie des Gletschers verändert sich jedes Jahr - das müssen wir bei den Simulationen berücksichtigen", erklärt Jouvet. Zum Glück gebe es zum Aletschgletscher aber viele historische Daten, so dass eine präzise Simulation der Eisbewegung möglich gewesen sei. Ursprünglich ging es den Forschern darum, das Schrumpfen des Eises infolge des Klimawandels besser zu verstehen. Die Rekonstruktion des Unglücks von 1926 ist also ein Nebenprodukt der aufwendigen Gletschermodellierung. Vom vierten Opfer fehlt allerdings bislang jede Spur.
Quelle: http://www.spiegel.de/wissenschaft/n...a-953919.html; dort sind auch einige Bilder zu sehen.
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