Dem Voranschreiten der Jahreszeit folgend, bewegt sich eine Nomadengruppe der Khampa mit ihren Yaks und zwei Fremden ein osttibetisches Hochtal hinauf und an den Gebirgsstöcken des Vogelbergs Cha-Ri, des Wolkenbergs Te-Ri und des siebentausend Meter streifenden, nach westlichen Maßstäben unbestiegenen Fliegenden Bergs Phur-Ri entlang.
Die Bergnamen benennen das Motiv eines eisbedeckten Gipfels, der in einer wetterbedingten Dunstlage, von seinem Bergstock abgeschnitten, über den Wolken zu schweben scheint.
Mit Feldern von Gebetsfahnen versuchen die Nomaden die Bruchkante von Erde und Welt zu fixieren und so die Rückkehr der Gipfel zu den Sternen zu verhindern.
Den beiden Fremden stehen am unfixierten Fliegenden Berg zwei exemplarische Möglichkeiten offen: dem Weg der Welt zu folgen und zu den Sternen zurückzukehren oder dem Weg der Erde zu folgen und bei den Menschen heimisch zu werden.
Insofern die beiden Fremden, Brüder, wie wir erfahren, die Extreme gegenwärtigen Menschseins verkörpern, bietet ihre Geschichte einen Leitfaden, das eigene Ausgespanntsein zwischen Erde und Welt zu reflektieren und den Gebetsfahnenfeldern der Nomaden analoge Fixierungen der Schnittstelle von Welt und Erde zu erproben.
II
Das Buch führt exemplarisch vor, wofür sein Autor eine individuelle biographische Form gefunden hat. Der biographische Hintergrund der im Jahr des Pferdes, 2002, spielenden Geschichte lässt den bislang, wie seine Protagonisten Liam und Pad, in West Cork, am Westrand Europas, lebenden Schriftsteller der Liebe zur im mitteleuropäischen Wien lebenden Judith folgen, wie Pad, der Erzähler, seiner Liebe zur Nomadin Nyema folgt.
Die exemplarische Figur, Pad, gibt West Cork auf, da seine neue Heimat das Schnittstellenproblem in Form von Gebetsfahnenfeldern bereits gelöst hat. Die biographische Figur, Ransmayr, behält West Cork, weil Weltausgesetztsein und Erdung, wie bei seinen Lesern, immer wieder neu vermittelt werden müssen.
Schlagen diese Leser das Buch auf, sind sie durch es hindurch, in typographischer Form, mit dem Schnittstellenproblem der Vermittlung von Erde und Welt, konfrontiert. Der geschriebene exemplarische Text erscheint im Flattersatz und lässt die rechte Seitenhälfte frei für den erst zu schreibenden biographischen Text des Lesenden. Die Buchseite fixiert den Doppeltext des Fliegenden Satzes, wie die Gebetsfahnenfelder Gipfel und Stock des Fliegenden Bergs.
Gleich eingangs macht das Buch deutlich, dass Liam und Pad exemplarische Kehrseiten unseres Menschseins sind. Pad, der Erzähler, halluziniert sowohl seinen eigenen Tod beim Abstieg vom Fliegenden Berg als auch die ihn ins Leben zurück erzählende Stimme seines Bruders Liam, dessen Spur er im Wettersturz verloren hatte. Er erlebt das Helle als Dunkles (Schnee), das Anorganische (Schnee) als Organisches (Schmetterlinge) und das Lebendige als Totes (vereiste Apollofalter). Es ist der ausgeträumte Traum vom Fliegenden Berg, genauer von der Erde und Welt zusammen haltenden Kraft der Gebetsfahnengirlanden und Schmetterlingsschwärme. Erst viel später erfährt Pad, daß er, sein Phantasieren mit der Stimme/dem Lachen des Bruders besetzend, sich selbst aus der "vollkommenen Stille" seines Todes heraus erzählt habe, und also zum Erzähler geworden sei - während sein faktisch stummer Bruder faktisch für immer stumm bleiben wird.
Aus einer allmählich schrumpfenden Ferne
hörte ich ihn erinnerst du dich ...,
weißt du noch sagen
du mußt dich erinnern, erinnere dich. (17)
hörte ich ihn erinnerst du dich ...,
weißt du noch sagen
du mußt dich erinnern, erinnere dich. (17)
III
Nach diesem Prolog beginnt die Geschichte auf Horse Island (West Cork), wo Pad durch das sonnengeflutete Haus Liams geht, das nach Abschluss der Nachlassarbeiten bereits leer ist.
Liams Existenz besteht aus der Erdkomponente Tier (zwölf Hochlandrinder, mehr als einhundert Targhee-Schafe, fünf Hirtenhunde) und der Weltkomponente Netz (zwei Computer, fünf Bildschirme, Internet, Symbolverwaltung):
Bis zu unserem Aufbruch nach Kham
hatte Liam alles, fast alles, was er besaß
oder was für sein Leben von Bedeutung war,
auf diesen Flüssigkristallschirmen erscheinen
und wieder verschwinden lassen:
die mit dunklem Schiefer gepflasterte Einfahrt
seines hoch über den Klippen
von Horse Island gelegenen Hofes,
digitalisierte Gletscherpanoramen
aus dem Himalaya und Karakorum,
nautische, topographische und astronomische Karten,
Wertpapierkonten, Heiratsannoncen,
Briefe aus Neuseeland und Pakistan
und auch die rätselhaften Flugrouten
von Papageientauchern,
die auf einem von weißem Kot wie beschneiten Felsturm
im äußersten Westen von Horse Island brüteten. (24)
hatte Liam alles, fast alles, was er besaß
oder was für sein Leben von Bedeutung war,
auf diesen Flüssigkristallschirmen erscheinen
und wieder verschwinden lassen:
die mit dunklem Schiefer gepflasterte Einfahrt
seines hoch über den Klippen
von Horse Island gelegenen Hofes,
digitalisierte Gletscherpanoramen
aus dem Himalaya und Karakorum,
nautische, topographische und astronomische Karten,
Wertpapierkonten, Heiratsannoncen,
Briefe aus Neuseeland und Pakistan
und auch die rätselhaften Flugrouten
von Papageientauchern,
die auf einem von weißem Kot wie beschneiten Felsturm
im äußersten Westen von Horse Island brüteten. (24)
Wer auf Horse Island lebt, ist wie an Bord
eines weit draußen auf Reede liegenden Schiffes
mit Irland und allem Land entweder
durch den Atlantik verbunden
oder durch ihn von allem getrennt. (29)
eines weit draußen auf Reede liegenden Schiffes
mit Irland und allem Land entweder
durch den Atlantik verbunden
oder durch ihn von allem getrennt. (29)
Die einzige Route, die keinen Fischnamen trug,
war eine der schwierigsten und hieß
Passage to Kham,
weil jener Berg, in dessen Schatten
mein Bruder schließlich verschwinden sollte,
uns schon lange vor unserem Aufbruch
nach Tibet nicht mehr schlafen ließ. (38)
war eine der schwierigsten und hieß
Passage to Kham,
weil jener Berg, in dessen Schatten
mein Bruder schließlich verschwinden sollte,
uns schon lange vor unserem Aufbruch
nach Tibet nicht mehr schlafen ließ. (38)
Dort zeigte mir Liam auf dem Bildschirm
seines Arbeitszimmers eine Schwarzweißfotografie
aus dem vergangenen Jahrhundert:
Er hatte in dieser Nacht auf einem
(vom Sturm unterbrochenen) Streifzug im Netz
nach historischen Details zur Geschichte
der Vermessung des Transhimalaya gesucht,
war dabei auf diese Fotografie gestoßen
und schien wie besessen von dem Gefühl,
eine Entdeckung gemacht zu haben:
Das von der Tragfläche eines Flugzeugs
überschattete, ja überdachte Bild
zeigte eine von Hängegletschern, Verschneidungen
und Lawinenstrichen zerrissene Wandflucht -
die südlichen Abstürze eines Berges,
dessen Höhe ein chinesischer Bomberpilot
auf neuntausend Meter geschätzt hatte,
ein Berg höher als der Mount Everest! (38f)
seines Arbeitszimmers eine Schwarzweißfotografie
aus dem vergangenen Jahrhundert:
Er hatte in dieser Nacht auf einem
(vom Sturm unterbrochenen) Streifzug im Netz
nach historischen Details zur Geschichte
der Vermessung des Transhimalaya gesucht,
war dabei auf diese Fotografie gestoßen
und schien wie besessen von dem Gefühl,
eine Entdeckung gemacht zu haben:
Das von der Tragfläche eines Flugzeugs
überschattete, ja überdachte Bild
zeigte eine von Hängegletschern, Verschneidungen
und Lawinenstrichen zerrissene Wandflucht -
die südlichen Abstürze eines Berges,
dessen Höhe ein chinesischer Bomberpilot
auf neuntausend Meter geschätzt hatte,
ein Berg höher als der Mount Everest! (38f)
Noch Liams astronomische Beobachtungen,
die er mit computergesteuerten Teleskopen betrieb,
erinnerten mich manchmal daran,
daß selbst mit Präzisionsinstrumenten
nach Welten Ausschau gehalten wurde,
die vielleicht nirgendwo anders zu finden waren
als in unserem Kopf. (43)
die er mit computergesteuerten Teleskopen betrieb,
erinnerten mich manchmal daran,
daß selbst mit Präzisionsinstrumenten
nach Welten Ausschau gehalten wurde,
die vielleicht nirgendwo anders zu finden waren
als in unserem Kopf. (43)
IV
Nach dieser Exposition greift Ransmayr den Faden der Erinnerung auf und expliziert erstmals die Kernthese seiner Phänomenologie des Bergsteigens, wonach jeder räumliche Höhengewinn eine zeitliche Tiefendimension biographischer Seelengeschichte und universeller Menschheitsgeschichte freilegt. Der Gipfel wird zum Nullpunkt der Existenz. Wer den Rückweg verpasst, schreitet aus ins Ungeborene, Nochnichtmenschliche.
Wir jedenfalls gerieten mit jedem Schritt,
mit dem wir uns vom Meeresspiegel entfernten
und an Höhe gewannen,
gleichzeitig tiefer in unsere eigene Geschichte.
Denn wie jede Fluchtlinie,
die an die Ränder des Lebens führt,
verbanden uns auch Kletterrouten
schon vom ersten Aufstieg an
nicht nur mit dem Fernsten, sondern ebenso
mit dem Nächsten, Vertrautesten,
mit Erinnerungen an früheste Wanderungen,
Kindheitswege zu den hochgelegenen Torffeldern
und Schafweiden unseres Vaters
und zu sommerlichen Bergseen in Kerry und Cork,
an deren felsigen Ufern Klettern
ein Spiel gewesen war. (44f)
mit dem wir uns vom Meeresspiegel entfernten
und an Höhe gewannen,
gleichzeitig tiefer in unsere eigene Geschichte.
Denn wie jede Fluchtlinie,
die an die Ränder des Lebens führt,
verbanden uns auch Kletterrouten
schon vom ersten Aufstieg an
nicht nur mit dem Fernsten, sondern ebenso
mit dem Nächsten, Vertrautesten,
mit Erinnerungen an früheste Wanderungen,
Kindheitswege zu den hochgelegenen Torffeldern
und Schafweiden unseres Vaters
und zu sommerlichen Bergseen in Kerry und Cork,
an deren felsigen Ufern Klettern
ein Spiel gewesen war. (44f)
Unaufhaltsam war er auf uns zugetrieben -
zuerst als weißes, digitales Datenfragment,
dann als wachsendes, von rasch ziehenden Wolken
immer wieder verhülltes Trugbild,
schließlich mit Gletschern und Firnwächten behängt,
ungeheuer und übermächtig auf uns zu
und mit lodernden Schneefahnen über uns hinweg,
und hatte uns in seinem Sog
aus der Geborgenheit von Horse Island
und unseres Lebens fortgewirbelt
in die Atemnot und in die Verlassenheit
seiner höchsten Höhen,
fort unter einen dunklen Himmel,
der selbst am Tag Sternbilder trug. (46)
zuerst als weißes, digitales Datenfragment,
dann als wachsendes, von rasch ziehenden Wolken
immer wieder verhülltes Trugbild,
schließlich mit Gletschern und Firnwächten behängt,
ungeheuer und übermächtig auf uns zu
und mit lodernden Schneefahnen über uns hinweg,
und hatte uns in seinem Sog
aus der Geborgenheit von Horse Island
und unseres Lebens fortgewirbelt
in die Atemnot und in die Verlassenheit
seiner höchsten Höhen,
fort unter einen dunklen Himmel,
der selbst am Tag Sternbilder trug. (46)
V
Nachdem wir dem Text durch Prolog und Exposition gefolgt sind, steht seiner Lektüre nichts mehr im Weg. Man kann das Buch an einem langen Tag durchlesen oder sich vom Autor vorlesen lassen.
Man darf eine in unzähligen Wandergesprächen zwischen Ransmayr und Messner geläuterte Phänomenologie des Bergsteigens erwarten. Es ist eine exemplarische Brüdergeschichte diesseits konkreter Personen, näher an Kain und Abel als an Günther und Reinhold Messner.
Meine Lektüre führt über die Wahrnehmung der Vermittlungsformen von Welt und Erde, von Netz und Tier, von Berechenbarkeit und Existenz. Wer diese Schnittstellen nicht überliest, dem öffnet sich ein zeitgeschichtlicher und biographischer Reflexionsrahmen.
Das Buch erzählt in leichtem Atem. Der Fliegende Berg flattert wie eine tibetische Gebetsfahne im Wind.
Bibliographie
Christoph Ransmayr, Der fliegende Berg, Frankfurt: Fischer 2006, 360 Seiten, 19,90 Euro.
Christoph Ransmayr, Der fliegende Berg: Ungekürzte Autorenlesung, Berlin: argon Hörbuch 2006, Laufzeit: 565 Minuten, 8 CDs mit Booklet, 34,95 Euro.
Michael Brandtner, Minya Konka: Schneeberge im Osten Tibets, Hamburg: Detjen 2006.
Ransmayr in Interviews
Kein Wunder, den "Phur-Ri" im osttibetischen Kham habe ich erfunden. Der Name bedeutet nichts anderes als eben "Fliegender Berg". Die Sache hat durchaus einen realen Hintergrund: Im Transhimalaya – und in allen Gebirgen – kann durchaus der Eindruck entstehen, dass Berge fliegen können: Wenn etwa ein eisbedeckter Gipfel über die Wolkendecke ragt, während der horizontale Blick in die Ferne sich im blauen Dunst verliert, sieht das manchmal tatsächlich so aus, als ob selbst die ungeheuerlichsten Berge – schweben würden; sehr eindrucksvoll.
Und dann fand ich durch ihn (Messner) wieder Anschluss an Wege, die ich in der Kindheit mit meinem Vater gegangen bin, im Toten Gebirge oder im oberösterreichischen Höllengebirge. Mit Messner ging es dann weiter in den Himalaja, nach Nepal und Tibet, Südchina, in den Jemen und nach Nordindien.
Mitte der 90er Jahre sind wir von Chengdu in der Provinz Sichuan nach Lhasa teils in Last- und Geländewagen gefahren, teils mit Yaknomanden gewandert; damals ist mir die Geschichte vom "fliegenden Berg" zum ersten Mal begegnet. Die Khampas glauben, dass auch das Schwerste, Mächtigste, Unbeweglichste, das unsereins sich vorstellen kann, nämlich die Berge des Himalaya, sich irgendwann in die Lüfte erheben und davonfliegen werden – auf dem gleichen Weg, auf dem sie in mythischer Vorzeit von den Sternen auf die Erde herabgeschwebt sind. Das ist eine Vorstellung, die mich begeistert: die Verbindung des Schwersten und Massivsten mit dem Allerleichtesten.
Tibet ist besetztes Gebiet, und alles, was sich über die globalisierte Gegenwart sagen läßt, über ökonomische, technologische und militärische Zwänge, läßt sich auch am Beispiel Tibets darstellen. Der Einbruch der Gegenwart in archaische, von Mythen bestimmte Gesellschaften, wird gerade am Beispiel tibetischer Clans sehr deutlich.
Und bis heute fasziniert mich, daß, wer einen Berg besteigt, in gewisser Weise auch eine Zeitreise in die Vergangenheit unternimmt. Je höher er kommt, umso weiter zurück gerät er in die Menschheitsgeschichte: aus den zivilisierten Tälern hinauf in Regionen, die sich dem Wanderer heute nicht anders präsentieren als einem neolithischen Jäger vor Tausenden Jahren.
Und dann fand ich durch ihn (Messner) wieder Anschluss an Wege, die ich in der Kindheit mit meinem Vater gegangen bin, im Toten Gebirge oder im oberösterreichischen Höllengebirge. Mit Messner ging es dann weiter in den Himalaja, nach Nepal und Tibet, Südchina, in den Jemen und nach Nordindien.
Mitte der 90er Jahre sind wir von Chengdu in der Provinz Sichuan nach Lhasa teils in Last- und Geländewagen gefahren, teils mit Yaknomanden gewandert; damals ist mir die Geschichte vom "fliegenden Berg" zum ersten Mal begegnet. Die Khampas glauben, dass auch das Schwerste, Mächtigste, Unbeweglichste, das unsereins sich vorstellen kann, nämlich die Berge des Himalaya, sich irgendwann in die Lüfte erheben und davonfliegen werden – auf dem gleichen Weg, auf dem sie in mythischer Vorzeit von den Sternen auf die Erde herabgeschwebt sind. Das ist eine Vorstellung, die mich begeistert: die Verbindung des Schwersten und Massivsten mit dem Allerleichtesten.
Tibet ist besetztes Gebiet, und alles, was sich über die globalisierte Gegenwart sagen läßt, über ökonomische, technologische und militärische Zwänge, läßt sich auch am Beispiel Tibets darstellen. Der Einbruch der Gegenwart in archaische, von Mythen bestimmte Gesellschaften, wird gerade am Beispiel tibetischer Clans sehr deutlich.
Und bis heute fasziniert mich, daß, wer einen Berg besteigt, in gewisser Weise auch eine Zeitreise in die Vergangenheit unternimmt. Je höher er kommt, umso weiter zurück gerät er in die Menschheitsgeschichte: aus den zivilisierten Tälern hinauf in Regionen, die sich dem Wanderer heute nicht anders präsentieren als einem neolithischen Jäger vor Tausenden Jahren.
Kommentar