Sobald man sich wieder in Bewegung setzt, kehrt mit jedem Meter das Leben zurück in die unterkühlten Zehen und Finger. Um den Körper nach der Warterei wieder auf Betriebstemperatur zu bringen, drück ich ein wenig aufs Tempo. Bisher geht es gut voran. Im griffigen Styroporschnee finden die Eisgeräte und Steigeisen soliden Halt, sodass ich bald wieder neben Richard am Stand stehe. Viele Schrauben hat er nicht gesetzt – bei den bisher guten Bedingungen hätte man das Seil vermutlich noch im Rucksack lassen können. Doch die mentale Stütze tut gut. Während man höher und höher steigt, verirren sich die Blicke immer wieder zwischen den Beinen hindurch auf den weit unter uns gelegenen Gletscher. Wir sind mittlerweile gut 250m über dem Einstieg. Da beruhigt es ungemein, mit einem Seil verbunden zu sein, das einem beim möglichen Fehltritt vor dem Sturz ins Leere bewahrt. Die ersten 150m ließen sich im angenehmen Trittschnee und bei etwa 45° ja noch entspannt frei gehen, doch mit kontinuierlicher Aufsteilung der Wand macht sich langsam die Psyche bemerkbar.
Aber woher soll die Selbstsicherheit auch kommen, wenn die Routine fehlt? In solchen Momenten kann das Seil dem angespannten Geist das Vertrauen in den eigenen Körper und Fähigkeiten zurückgeben. Natürlich verlieren wir so etwas Zeit, doch indem wir um 4Uhr in der Früh gestartet sind, haben wir genügend Puffer eingebaut. „Sieht gar nicht mal so einfach aus“ bemerkt Richard und deutet mit einem Kopfnicken nach oben, während ich am Standplatz gerade meine Selbstsicherung einhänge. Meine Blicke wandern zur Schlüsselstelle der Tour. Aus dem anfänglich noch recht breiten Einstiegsbereich ist mittlerweile eine schmale Rinne geworden und etwa zehn Meter über uns verstellt ein breiter Felsriegel den Weiterweg. Sechs bis sieben Meter ragt dieser steil – beinah senkrecht – empor. Zudem ist er mit einer wenige Zentimeter dicken Eisschicht überzogen, die nicht nur das Klettern erschwert, sondern vor allem das Anbringen von Zwischensicherungen unmöglich macht. Puh, das wird spannend werden. Doch noch finde ich Gefallen an dieser Herausforderung und freue mich beinah, dass ich nun wieder an der Reihe bin. Nach ein paar Metern kann ich sogar nochmal eine Schraube setzen. Sie geht zwar nicht gänzlich rein und stößt auf Fels, doch besser als nichts. Dann stehe ich auch schon direkt unter dem Felsriegel. So richtig einladend wirkt die Sache nicht. Als Richard mein kurzes Zögern bemerkt, zeigt er rechts auf ein kleines Schneefeld: „Vielleicht geht’s da ja besser.“ Ja, nen Versuch ist es wert. Um dorthin zu gelangen, muss ich über Felsen rechts aus der Rinne steigen, aber die Eisgeräte beißen sich im windgepressten Schnee gut fest. „Geht super“ rufe ich hinunter, steige weiter aufwärts und frohlocke innerlich bereits. Nur wenig später muss ich allerdings erkennen, dass der Schnee hier drüben zunehmend schlechter wird und immer weniger Halt bietet. Im Eifer gehe ich noch ein Stück weiter, schließlich bin ich doch schon auf Höhe des oberen Endes vom Felsriegel. Links wartet der Weiterweg in der Rinne, keine zehn Meter von mir. Aber ich komme nicht hinüber. Auch weiter hinauf geht es nicht. Die Pickel greifen ins Leere. Wohin ich mich auch bewege, überall loser Pulverschnee. Ich wühle einiges davon weg, aber ein Meter darunter lauert steiler, abwärts geschichteter Fels. Die Steigeisen rutschen daran ab und je mehr ich mich in alle Richtungen bewege, desto instabiler wird mein Stand. Also halte ich inne, suche stattdessen mit den Augen umher und hoffe auf eine glückliche Fügung. Natürlich registriert auch Richard, dass es nicht weiter geht. „Wie siehts denn da oben aus?“ ruft er empor. „Scheiße!“ – mehr fällt mir auf Anhieb nicht ein. Wir sind zwar noch in Sichtkontakt, von seiner Mimik kann ich aber nichts mehr erkennen. „Kannst du wieder zurückkommen?“ Ich überlege nur kurz. „Sieht schlecht aus. Unter mir gibt der ganze Schnee nach. Ich muss jetzt irgendwie hier durch!“ Richard schweigt einen Moment, dann höre ich wieder seine Stimme: „Ok, aber pass auf. Also fallen sollteste jetzt nicht. Der Stand wird das womöglich aushalten, doch ohne Heli kommen wir dann hier vermutlich nicht mehr raus.“ Tja, das wollte ich doch hören. Ich schaue mich um, blicke die Wand hinunter, wobei die Aussicht nicht nur bis zum Gletscher sondern sogar bis ins Tal reicht. Ich atme tief durch.
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Vor zwei Tagen hatten wir noch dort unten gestanden. Der erste Blick auf die Wand war besonders eindrücklich gewesen – kein Vergleich zu der klassischen Frühjahrsansicht, wie sie in den zahlreichen Führern oder im Internet abgebildet war. Von der breiten Firnwand war nicht mehr viel geblieben. Es lag so wenig Schnee, dass überall die Felsen herausschauten.
Schnell hatten sich erste Zweifel bei uns beiden breit gemacht. Vor allem stand die Frage im Raum, ob eine Begehung bei diesen Verhältnissen für uns überhaupt machbar wäre. Doch noch verschoben wir solche Überlegungen. Schließlich sollten wir im Winterraum der Rifugio Stella Denza noch viel Zeit zum Nachdenken haben. Für den kommenden Tag war alpenweit Sturm angekündigt, von Böen mit bis zu 100Km/h war die Rede. Im kalten Hüttchen ohne Ofen ließen wir einen kompletten Tag und zwei Nächte verstreichen, während von draußen der Wind gegen die Fenster peitschte. Wir hatten uns für diese ereignisarme Zeit vorsorglich allerlei Ablenkungen mit hinauf gebracht: Würstchen, Suppen, reichlich Schokolade und Kaffee, aber auch zwei Flaschen Wein und ein Kniffel-Spiel. Dennoch trieb uns das eklige Wetter immer wieder aufs Neue ans Fenster oder vor die Hütte, um in die steile Wand zu schauen. Geht es oder geht es nicht?
Immer wieder wechselten wir unsere Meinung. Zwei Tage zuvor war die Westwand der Presanella über den Eiswulst begangen worden. Die schönere Linie ging zwar definitiv über den schmalen Firnstreifen durch die klassische Nordwand, aber wäre jene vielleicht die bessere Alternative? Oder gar doch nur der Normalweg? Unsere Pläne schwankten nun immer wieder hin und her – beinahe wie draußen der Wind.
Zu unserer großen Überraschung hatten wir bereits am Morgen zwei Punkte am Einstieg der klassischen Nordwand erspäht. Im gleichmäßigen Tempo waren sie weiter nach oben gestiegen, bis eine dichte Wolkenwand sie verschluckte und wir sie aus den Augen verloren. Ging es also doch? Während wir noch überlegten, erschien obendrein eine dreiköpfige Gruppe aus dem Tal bei uns an der Hütte. Es waren ein Mann um die 40 mit seiner Frau und seinem Vater. Der jüngere Mann erklärte, dass sie jedes Jahr am gleichen Tag diesen Ort aufsuchten, da sein Jungendfreund vor über einem Jahrzehnt hier bei einer Bergtour ums Leben gekommen war. Als sie von unserem Vorhaben hörten, schüttelte vor allem der ältere Mann bedächtig seinen Kopf. „Das wird nichts. Viel zu wenig Schnee. Wie gesagt: Wir sind jedes Jahr Ende Oktober hier. Aber so arg hat die Wand noch nie ausgesehen.“ Als wir ihm erklärten, dass wir erst am Morgen zwei Personen in der Rinne gesehen hatten – noch dazu bei dem Sturm – wollte er es kaum glauben. Gemeinsam starrten wir alle gebannt die mittlerweile wieder wolkenfreie Nordwand hinauf. Dann gab der Jüngere uns sein Fernglas: „Na vielleicht hilft euch das weiter.“ Unter der Vergrößerung folgten wir der Rinne Stück für Stück nach oben. Mehrere Felspassagen schauten heraus, welche aber vermutlich alle umgangen werden konnten. Nur etwas oberhalb der Wandhälfte stellte sich ein Felsriegel in den Weg, der wohl überklettert werden musste. Ja, das würde der Knackpunkt der Tour sein – Richard und ich waren uns beide einig. Aber ob machbar oder nicht, das stand weiterhin in den Sternen.
Auf jeden Fall wollten wir die beiden Bergsteiger auf ihrem Rückweg abpassen, die wir zuvor in der Route gesehen hatten.
Am frühen Nachmittag war es dann soweit. Wir saßen gerade beim wärmen Kaffee zusammen und Richard wehrte sich beim Kniffelspiel tapfer gegen die „Schande der Presanella“, als zwei kräftige Südtiroler den Winterraum betraten.
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