Ja, es sollte ein schöner, spannender Bericht werden. Unser Aufstieg über den Biancograt hinauf zum Piz Bernina. Umrahmt mit vielen eindrücklichen Bildern und dem mitschwingenden Gefühl, eine aufregende und zugleich nicht ganz so leichte Tour mit Erfolg gemeistert zu haben.
Leider kam es anders! Aus dem Gipfel wurde nichts - der Biancograt bleibt auch weiterhin auf unserer Liste. Doch manchmal müssen nicht nur die Geschichten der großen Siege erzählt werden, sondern auch die der Niederlagen. Daher folgt nun eine kritische Aufarbeitung unserer Tour, eine Darstellung, in der es mehr um den inneren Lernprozess geht, als um imposante Bilder oder dramatische Ereignisschilderungen. Bilder werden daher an dieser Stelle auch kaum eine Rolle spielen. Eigentlich gibt es nur eins. Und zwar jenes von diesem klassischen Blick hinuf zum Biancograt,von dem man einfach nicht mehr loskommt, wenn man nur ein Mal zur Tschiervahütte aufgestiegen ist...
Bianco2.jpg
Sonntag, 16.44Uhr – Als ich aus dem Zug steige und meine Füße auf den Erfurter Bahnsteig setze, empfängt mich sofort die heiße, trockene Luft. Da bin ich also wieder – daheim – kaum 60h nach meinem Aufbruch Richtung Pontresina. Ich bahne mir zwischen den vielen emsigen Menschen einen Weg hinaus zum Ausgang, schwinge mich auf mein dort abgestelltes Rad und mache mich auf die letzten paar hundert Meter zur Wohnung. Wenig später sitz ich in der Küche, den Blick auf meinen abgestellten Rucksack in der Ecke gerichtet und atme tief durch. Da ist sie schon wieder vorbei, die große Fahrt in die Berge. Doch etwas fehlt in diesem Moment. Klar, der Gipfel, aber noch viel mehr die Freude über eine gelungene Tour. Gleichzeitig will mich das deprimierende Gefühl der Unzufriedenheit nicht loslassen. Und wieder drängen sich die Bilder von der scharfen Firnschneide des Biancogrates auf – dieser eindrückliche und zweifellos majestätische Blick auf den Piz Bernina, der sich von der Tschiervahütte bietet und dem man sich einfach nicht entziehen kann. Auch wir haben uns danach gesehnt, dort oben zu stehen und sind stattdessen mit einer Niederlage wieder heim gefahren. Einer Niederlage, die unnötig und damit umso bitterer war und ist…
Die negativen Vorzeichen gab es, zumindest für mich, bereits vor dem Aufbruch gen Süden. Ich hatte zwei Wochen zuvor mit einer Erkältung zu kämpfen gehabt, von der noch der Reizhusten und ein unangenehmes Kratzen im Hals geblieben waren. Ich wusste, dass ich nicht ganz bei 100% war und das machte mir auch am Abend vor der Abfahrt noch zu schaffen. Doch nach den vielen Trainingshöhemetern und der traumhaften Wettervorhersage absagen? Das war für mich keine wirkliche Option. Das Motto lautete: Wird schon gehen.
Am Freitagmorgen um 5.40Uhr begann für mich nach einer kurzen Nacht dann die stressige Anreise. Mit Bahn und Mitfahrgelegenheit ging es zunächst nach Speyer und von dort mit beiden Bergpartnern weiter nach Pontresina. Es war schon nach 19Uhr, als wir endlich den örtlichen Parkplatz erreichten. Nun mussten wir uns ranhalten und so ging es im schnellen Schritt hinauf zur Tschiervahütte. Bei dem eingeschlagenen Tempo merkte ich bereits, dass das Gehen anstrengender war als sonst, doch versuchte ich dies vorerst zu verdrängen. Mit Einbruch der Dunkelheit gegen 22Uhr erreichten wir pünktlich zum Zapfenstreich die Hütte. Mit Wein und Nudelsuppe machten wir es uns anschließend im Trockenraum bequem und besprachen den finalen Plan für morgen. Ursprünglich hatten wir die Absicht gehegt, bereits um 2.30Uhr in der Früh und damit vor der Masse aufzubrechen, doch unsere verspätete Ankunft machte uns einen Strich durch die Rechnung. Also das Gegenteil: Eine Stunde länger schlafen und erst nach allen anderen aufbrechen. In unserer naiven Vorfreude ließen wir dabei die Tatsache außer Acht, dass die Nacht für uns so oder so viel zu kurz werden würde und von einer guten Akklimatisation nicht einmal ansatzweise die Rede sein konnte. Und so ging es dann um 23.30Uhr mit der nicht unbekannten Hoffnung ins Bett, dass schon alles irgendwie gut gehen würde…
Knapp vier Stunden später war die Nachtruhe dann auch schon wieder vorbei. Den Wecker hätte es gar nicht bedurft, war das Lager doch seit etwa 2.30Uhr in Aufbruchsstimmung. Gegen 4.20Uhr verließen wir als letzte Seilschaft die Hütte. Schon nach ein paar Metern merkte ich, dass mir der Elan und die Spritzigkeit fehlten, die ich sonst immer zu Beginn jeder Tour verspürte. Und so setze ich mich erst einmal an den Schluss unserer 3er Gruppe und versuchte Schritt zu halten, was gar nicht so leicht war. Während meine Augen im kargen Licht der Stirnlampe auf die Füße meines Vordermanns gerichtet waren, fiel mir nicht auf, dass wir den falschen Aufstiegsweg wählten. Alle drei übersahen wir die Eisensprossen des kleinen Klettersteigs nicht weit hinter der Hütte und folgten stattdessen einer alten, nur schwer erkennbaren Spur, die uns bald an die Abbruchkante eines ehemaligen Bergrutsches führte. Wir stiegen nun etwas ab, begannen, die breite Geröllflanke zu queren und standen bald vor dem nächsten Abbruch. 20 Meter weiter drüben leuchteten Katzaugen, also mühten wir uns durch das lose und brüchige Gestein, nur um festzustellen, dass uns der Weg dort wieder hinab zum Gletscher leitete. Wir hielten uns dennoch an diese einzigen Hinweise eines Pfades und folgten von nun an dem aperen Gletscherrand. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, da wir uns bald vor dem wenig einladend aussehenden Gletscherbruch wiederfanden. Links davon stellte sich uns zudem ein breiter Felsriegel in den Weg, an dem wir uns nur kurz versuchten, da die einzig kletterbare Linie mit einem doch zu großen Absturzrisiko verbunden war. Also ging es wieder ein paar hundert Meter zurück und nun direkt die Geröllflanke hinauf, wo wir Ansätze eines Weges erahnten. Nun hatten wir Glück – es war tatsächlich die richtige Spur. Die Freude darüber hielt sich allerdings in Grenzen. Dieser Umweg hatte uns weit über eine Stunde und knapp 200hm gekostet. Derweil hatte sich auch meine physische Verfassung nicht gebessert, sodass in mir erstmals ernste Zweifel an einem Gipfelerfolg aufkamen. Als wir die Firnflanke erreichten, die noch in sehr gutem Zustand war, musste ich mir immer häufiger kleine Pausen nehmen, doch noch wollte ich nicht aufgeben. Unterdessen diskutierten meine beiden Mitstreiter, die mir ein Stückchen voraus gegangen waren, ganz andere Probleme. Am Horizont war eine dicke Wolkenfront aufgezogen, die sich uns kontinuierlich näherte und sich nach und nach in den umliegenden Gipfeln festsetzte. Bald schon war die Schneekuppe des Piz Roseg nicht mehr zu sehen und auch über den Piz Morteratsch schob sich eine fette, dunkle Wolke. Als wir dann gemeinsam mit kritischem Blick zum eingenebelten Biancograt aufblickten, kam uns eine österreichische Seilschaft entgegen. Nach eigener Aussage empfanden sie ihr Tempo schlichtweg als zu langsam, sodass sie den weiteren Aufstieg als fahrlässig ansahen und lieber umdrehten. In diesem Moment begannen auch wir zu zweifeln. In unserer Unsicherheit einigten wir uns darauf, noch bis zur Fuorcla Prievlusa (3430m) aufzusteigen und dann zu entscheiden. Dort angekommen, war die Entscheidung, so schwer sie uns auch fiel, schnell getroffen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt bereits vier Stunden unterwegs, hatten durch unseren Umweg um die 1100hm in den Beinen und der schwerste sowie längste Teil stand uns noch bevor. Die mangelnde Akklimatisierung und mein Unwohlsein taten ihr Übriges. Der Hauptgrund war jedoch das Wetter, welches sich, entgegen aller Vorhersagen, zunehmend verschlechterte. Die Vorstellung eines Gewitters hoch oben auf dem Biancograt war wenig verlockend. Die Entscheidung stand also fest. Umkehr!
Eine halbe Stunde später waren wir wieder 300m tiefer auf dem flachen Gletscher angekommen und siehe da, urplötzlich riss der graue Himmel auf und blaue Flecken machten sich breit. Verdutzt betrachteten wir das Schauspiel. Binnen weniger Minuten begannen sich die Wolken aufzulösen und bald kam auch die markante Firnschneide wieder zum Vorschein. Das angekündigte Kaiserwetter war zurück und uns blieb nichts anderes übrig, als dieser Entwicklung kopfschüttelnd beizuwohnen. Wir hatten uns falsch entschieden, waren zu schnell wieder abgestiegen und hatten nun die Möglichkeit verpasst, uns eine der schönsten Gipfelanstiege der Ostalpen ins Tourenbuch eintragen zu können… Doch hatten wir uns wirklich falsch entschieden?
Der Abstieg zur Tschiervahütte und anschließend zurück nach Pontresina war lang und zäh. So hatten wir viel Zeit, uns diese Frage immer wieder zu stellen. Jeder für sich – offen und ehrlich. Nach und nach wichen die üblichen Phrasen wie „Der Berg läuft nicht weg“ und „Wir kommen wieder– nur noch stärker“ einer reflektierteren Betrachtung. Inmitten der Enttäuschung versuchte ich bereits etwas Positives daraus zu ziehen. Ich hatte bisher nicht oft umkehren müssen. Die meisten meiner Touren verliefen (wenn auch manchmal mit etwas Glück) erfolgreich. Ich konnte mich nicht beschweren und vielleicht war genau diese Erfahrung eine, die ich mal nötig hatte. Ich versuchte mich an ein paar schlaue Sätze zu erinnern, die ich schon mehrfach gehört hatte: Umkehren heißt nicht scheitern. Aus einem nicht erreichten Gipfel kann man oft mehr lernen, als aus einer noch so erfolgreichen Tour. Da musste doch was Wahres dran sein. In Gedanken ging ich noch einmal alles durch. Ich war aufgebrochen, obwohl ich noch nicht wieder richtig fit war, allen Warnungen zum Trotz. Die Erkältung war noch nicht wieder richtig abgeklungen, da hatte ich mich schon wieder aufs Rad geschwungen und Höhenmeter abgespult. In gewisser Weise musste ich ja damit auf die Nase fallen. Während mich just in diesem Moment eine Hustenattacke heimsuchte, fragte ich mich ernsthaft, wie ich so blind in diese Situation rennen konnte. Dabei liest und hört man doch so viel von verschleppten Erkältungen und deren Folgen. Das sollte mir nun eine Lehre sein – wirklich! Und dann noch der späte Hüttenaufstieg. Wir hatten darüber lachen müssen, dass wir allein im Trockenraum saßen und unser Abendbrot aßen, während alle anderen bereits in ihre Betten verschwunden waren. Dass die Nacht kurz werden würde – geschenkt – aber die Ignoranz gegenüber der notwendigen Akklimatisation war schon selten dämlich. Klar, es hatte schon oft geklappt, auch an einem 4000er, ähnlich verlief doch die Weismiessüberschreitung vor zwei Jahren ab, aber war gegenüber dem Biancograt nicht ein bisschen mehr Respekt vonnöten? Dachten wir Flachländer wirklich, wir rennen da Freitagabend mal eben zur Hütte hoch, ich dazu noch gesundheitlich angeschlagen, und hauen ein paar Stunden später den Piz Bernina im Vorbeigehen weg?! Zugegeben, ganz so war es nicht. Wir sind nicht überheblich an die Sache gegangen, doch ein wenig naiv schon. Ist ja bisher auch immer alles gut gegangen. Unsere größte Sorge war vorab nicht unser eigenes Verhalten, sondern wie wir dem (durch andere hervorgerufenen) Stau am Grat umgehen könnten. Da ist es nur folgerichtig, dass wir es waren, die den falschen Weg einschlugen und dadurch sinnlos Höhenmeter machen mussten. Jene hätten uns womöglich das Genick gebrochen, wären nicht dicke Wolken aufgezogen. Tja, Karma is a bitch! Und da sind wir wieder bei dem Wetter, das uns einen so gemeinen Streich gespielt hat. Wären wir nicht binnen einer Stunde von einer trüben Suppe eingehüllt worden, hätte eine Umkehr vermutlich gar nicht zur Disposition gestanden. Ist also das verflixte Wetter schuld?! Wohl eher nicht. Man könnte eher sagen, das Wetter hat uns vor einer großen Dummheit bewahrt. Wir waren bis zur Scharte viel zu langsam, schlecht akklimatisiert und regeneriert, hatten zu viel sinnlose Energie verbraucht und waren obendrein nicht im vollen Besitz unserer Kräfte fit (ich zumindest), als dass unsere Chancen auf eine erfolgreiche Tour je gut gestanden hätten. Vielleicht ist Karma doch keine so große Bitch wie man gern vorschnell sagt…
Der Rückweg zum Auto war kein leichter. Immer wieder mussten wir anhalten, uns umdrehen und zu diesem einmaligen Grat aufschauen, an dem kleine Punkte dem Himmel entgegen stapften. Wir waren nicht dabei. Zum Glück – wer weiß, wie die Sache sonst ausgegangen wäre. Bitter war es trotzdem – musste es auch sein – um beim nächsten Mal ein bisschen schlauer zu sein.
Nun sitze ich hier…einige Stunden und 900km später und immer noch mit der Enttäuschung und dem schlechten Gefühl wie nach einem wichtigen verlorenen Fußballspiel. Heimgekommen mit einer Niederlage, die ihre Spuren hinterlassen wird. Vielleicht ist es aber eine Niederlage, die später einmal einen wichtigen Beitrag zum Erfolg leisten kann. Hoffentlich!
Leider kam es anders! Aus dem Gipfel wurde nichts - der Biancograt bleibt auch weiterhin auf unserer Liste. Doch manchmal müssen nicht nur die Geschichten der großen Siege erzählt werden, sondern auch die der Niederlagen. Daher folgt nun eine kritische Aufarbeitung unserer Tour, eine Darstellung, in der es mehr um den inneren Lernprozess geht, als um imposante Bilder oder dramatische Ereignisschilderungen. Bilder werden daher an dieser Stelle auch kaum eine Rolle spielen. Eigentlich gibt es nur eins. Und zwar jenes von diesem klassischen Blick hinuf zum Biancograt,von dem man einfach nicht mehr loskommt, wenn man nur ein Mal zur Tschiervahütte aufgestiegen ist...
Bianco2.jpg
Sonntag, 16.44Uhr – Als ich aus dem Zug steige und meine Füße auf den Erfurter Bahnsteig setze, empfängt mich sofort die heiße, trockene Luft. Da bin ich also wieder – daheim – kaum 60h nach meinem Aufbruch Richtung Pontresina. Ich bahne mir zwischen den vielen emsigen Menschen einen Weg hinaus zum Ausgang, schwinge mich auf mein dort abgestelltes Rad und mache mich auf die letzten paar hundert Meter zur Wohnung. Wenig später sitz ich in der Küche, den Blick auf meinen abgestellten Rucksack in der Ecke gerichtet und atme tief durch. Da ist sie schon wieder vorbei, die große Fahrt in die Berge. Doch etwas fehlt in diesem Moment. Klar, der Gipfel, aber noch viel mehr die Freude über eine gelungene Tour. Gleichzeitig will mich das deprimierende Gefühl der Unzufriedenheit nicht loslassen. Und wieder drängen sich die Bilder von der scharfen Firnschneide des Biancogrates auf – dieser eindrückliche und zweifellos majestätische Blick auf den Piz Bernina, der sich von der Tschiervahütte bietet und dem man sich einfach nicht entziehen kann. Auch wir haben uns danach gesehnt, dort oben zu stehen und sind stattdessen mit einer Niederlage wieder heim gefahren. Einer Niederlage, die unnötig und damit umso bitterer war und ist…
Die negativen Vorzeichen gab es, zumindest für mich, bereits vor dem Aufbruch gen Süden. Ich hatte zwei Wochen zuvor mit einer Erkältung zu kämpfen gehabt, von der noch der Reizhusten und ein unangenehmes Kratzen im Hals geblieben waren. Ich wusste, dass ich nicht ganz bei 100% war und das machte mir auch am Abend vor der Abfahrt noch zu schaffen. Doch nach den vielen Trainingshöhemetern und der traumhaften Wettervorhersage absagen? Das war für mich keine wirkliche Option. Das Motto lautete: Wird schon gehen.
Am Freitagmorgen um 5.40Uhr begann für mich nach einer kurzen Nacht dann die stressige Anreise. Mit Bahn und Mitfahrgelegenheit ging es zunächst nach Speyer und von dort mit beiden Bergpartnern weiter nach Pontresina. Es war schon nach 19Uhr, als wir endlich den örtlichen Parkplatz erreichten. Nun mussten wir uns ranhalten und so ging es im schnellen Schritt hinauf zur Tschiervahütte. Bei dem eingeschlagenen Tempo merkte ich bereits, dass das Gehen anstrengender war als sonst, doch versuchte ich dies vorerst zu verdrängen. Mit Einbruch der Dunkelheit gegen 22Uhr erreichten wir pünktlich zum Zapfenstreich die Hütte. Mit Wein und Nudelsuppe machten wir es uns anschließend im Trockenraum bequem und besprachen den finalen Plan für morgen. Ursprünglich hatten wir die Absicht gehegt, bereits um 2.30Uhr in der Früh und damit vor der Masse aufzubrechen, doch unsere verspätete Ankunft machte uns einen Strich durch die Rechnung. Also das Gegenteil: Eine Stunde länger schlafen und erst nach allen anderen aufbrechen. In unserer naiven Vorfreude ließen wir dabei die Tatsache außer Acht, dass die Nacht für uns so oder so viel zu kurz werden würde und von einer guten Akklimatisation nicht einmal ansatzweise die Rede sein konnte. Und so ging es dann um 23.30Uhr mit der nicht unbekannten Hoffnung ins Bett, dass schon alles irgendwie gut gehen würde…
Knapp vier Stunden später war die Nachtruhe dann auch schon wieder vorbei. Den Wecker hätte es gar nicht bedurft, war das Lager doch seit etwa 2.30Uhr in Aufbruchsstimmung. Gegen 4.20Uhr verließen wir als letzte Seilschaft die Hütte. Schon nach ein paar Metern merkte ich, dass mir der Elan und die Spritzigkeit fehlten, die ich sonst immer zu Beginn jeder Tour verspürte. Und so setze ich mich erst einmal an den Schluss unserer 3er Gruppe und versuchte Schritt zu halten, was gar nicht so leicht war. Während meine Augen im kargen Licht der Stirnlampe auf die Füße meines Vordermanns gerichtet waren, fiel mir nicht auf, dass wir den falschen Aufstiegsweg wählten. Alle drei übersahen wir die Eisensprossen des kleinen Klettersteigs nicht weit hinter der Hütte und folgten stattdessen einer alten, nur schwer erkennbaren Spur, die uns bald an die Abbruchkante eines ehemaligen Bergrutsches führte. Wir stiegen nun etwas ab, begannen, die breite Geröllflanke zu queren und standen bald vor dem nächsten Abbruch. 20 Meter weiter drüben leuchteten Katzaugen, also mühten wir uns durch das lose und brüchige Gestein, nur um festzustellen, dass uns der Weg dort wieder hinab zum Gletscher leitete. Wir hielten uns dennoch an diese einzigen Hinweise eines Pfades und folgten von nun an dem aperen Gletscherrand. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, da wir uns bald vor dem wenig einladend aussehenden Gletscherbruch wiederfanden. Links davon stellte sich uns zudem ein breiter Felsriegel in den Weg, an dem wir uns nur kurz versuchten, da die einzig kletterbare Linie mit einem doch zu großen Absturzrisiko verbunden war. Also ging es wieder ein paar hundert Meter zurück und nun direkt die Geröllflanke hinauf, wo wir Ansätze eines Weges erahnten. Nun hatten wir Glück – es war tatsächlich die richtige Spur. Die Freude darüber hielt sich allerdings in Grenzen. Dieser Umweg hatte uns weit über eine Stunde und knapp 200hm gekostet. Derweil hatte sich auch meine physische Verfassung nicht gebessert, sodass in mir erstmals ernste Zweifel an einem Gipfelerfolg aufkamen. Als wir die Firnflanke erreichten, die noch in sehr gutem Zustand war, musste ich mir immer häufiger kleine Pausen nehmen, doch noch wollte ich nicht aufgeben. Unterdessen diskutierten meine beiden Mitstreiter, die mir ein Stückchen voraus gegangen waren, ganz andere Probleme. Am Horizont war eine dicke Wolkenfront aufgezogen, die sich uns kontinuierlich näherte und sich nach und nach in den umliegenden Gipfeln festsetzte. Bald schon war die Schneekuppe des Piz Roseg nicht mehr zu sehen und auch über den Piz Morteratsch schob sich eine fette, dunkle Wolke. Als wir dann gemeinsam mit kritischem Blick zum eingenebelten Biancograt aufblickten, kam uns eine österreichische Seilschaft entgegen. Nach eigener Aussage empfanden sie ihr Tempo schlichtweg als zu langsam, sodass sie den weiteren Aufstieg als fahrlässig ansahen und lieber umdrehten. In diesem Moment begannen auch wir zu zweifeln. In unserer Unsicherheit einigten wir uns darauf, noch bis zur Fuorcla Prievlusa (3430m) aufzusteigen und dann zu entscheiden. Dort angekommen, war die Entscheidung, so schwer sie uns auch fiel, schnell getroffen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt bereits vier Stunden unterwegs, hatten durch unseren Umweg um die 1100hm in den Beinen und der schwerste sowie längste Teil stand uns noch bevor. Die mangelnde Akklimatisierung und mein Unwohlsein taten ihr Übriges. Der Hauptgrund war jedoch das Wetter, welches sich, entgegen aller Vorhersagen, zunehmend verschlechterte. Die Vorstellung eines Gewitters hoch oben auf dem Biancograt war wenig verlockend. Die Entscheidung stand also fest. Umkehr!
Eine halbe Stunde später waren wir wieder 300m tiefer auf dem flachen Gletscher angekommen und siehe da, urplötzlich riss der graue Himmel auf und blaue Flecken machten sich breit. Verdutzt betrachteten wir das Schauspiel. Binnen weniger Minuten begannen sich die Wolken aufzulösen und bald kam auch die markante Firnschneide wieder zum Vorschein. Das angekündigte Kaiserwetter war zurück und uns blieb nichts anderes übrig, als dieser Entwicklung kopfschüttelnd beizuwohnen. Wir hatten uns falsch entschieden, waren zu schnell wieder abgestiegen und hatten nun die Möglichkeit verpasst, uns eine der schönsten Gipfelanstiege der Ostalpen ins Tourenbuch eintragen zu können… Doch hatten wir uns wirklich falsch entschieden?
Der Abstieg zur Tschiervahütte und anschließend zurück nach Pontresina war lang und zäh. So hatten wir viel Zeit, uns diese Frage immer wieder zu stellen. Jeder für sich – offen und ehrlich. Nach und nach wichen die üblichen Phrasen wie „Der Berg läuft nicht weg“ und „Wir kommen wieder– nur noch stärker“ einer reflektierteren Betrachtung. Inmitten der Enttäuschung versuchte ich bereits etwas Positives daraus zu ziehen. Ich hatte bisher nicht oft umkehren müssen. Die meisten meiner Touren verliefen (wenn auch manchmal mit etwas Glück) erfolgreich. Ich konnte mich nicht beschweren und vielleicht war genau diese Erfahrung eine, die ich mal nötig hatte. Ich versuchte mich an ein paar schlaue Sätze zu erinnern, die ich schon mehrfach gehört hatte: Umkehren heißt nicht scheitern. Aus einem nicht erreichten Gipfel kann man oft mehr lernen, als aus einer noch so erfolgreichen Tour. Da musste doch was Wahres dran sein. In Gedanken ging ich noch einmal alles durch. Ich war aufgebrochen, obwohl ich noch nicht wieder richtig fit war, allen Warnungen zum Trotz. Die Erkältung war noch nicht wieder richtig abgeklungen, da hatte ich mich schon wieder aufs Rad geschwungen und Höhenmeter abgespult. In gewisser Weise musste ich ja damit auf die Nase fallen. Während mich just in diesem Moment eine Hustenattacke heimsuchte, fragte ich mich ernsthaft, wie ich so blind in diese Situation rennen konnte. Dabei liest und hört man doch so viel von verschleppten Erkältungen und deren Folgen. Das sollte mir nun eine Lehre sein – wirklich! Und dann noch der späte Hüttenaufstieg. Wir hatten darüber lachen müssen, dass wir allein im Trockenraum saßen und unser Abendbrot aßen, während alle anderen bereits in ihre Betten verschwunden waren. Dass die Nacht kurz werden würde – geschenkt – aber die Ignoranz gegenüber der notwendigen Akklimatisation war schon selten dämlich. Klar, es hatte schon oft geklappt, auch an einem 4000er, ähnlich verlief doch die Weismiessüberschreitung vor zwei Jahren ab, aber war gegenüber dem Biancograt nicht ein bisschen mehr Respekt vonnöten? Dachten wir Flachländer wirklich, wir rennen da Freitagabend mal eben zur Hütte hoch, ich dazu noch gesundheitlich angeschlagen, und hauen ein paar Stunden später den Piz Bernina im Vorbeigehen weg?! Zugegeben, ganz so war es nicht. Wir sind nicht überheblich an die Sache gegangen, doch ein wenig naiv schon. Ist ja bisher auch immer alles gut gegangen. Unsere größte Sorge war vorab nicht unser eigenes Verhalten, sondern wie wir dem (durch andere hervorgerufenen) Stau am Grat umgehen könnten. Da ist es nur folgerichtig, dass wir es waren, die den falschen Weg einschlugen und dadurch sinnlos Höhenmeter machen mussten. Jene hätten uns womöglich das Genick gebrochen, wären nicht dicke Wolken aufgezogen. Tja, Karma is a bitch! Und da sind wir wieder bei dem Wetter, das uns einen so gemeinen Streich gespielt hat. Wären wir nicht binnen einer Stunde von einer trüben Suppe eingehüllt worden, hätte eine Umkehr vermutlich gar nicht zur Disposition gestanden. Ist also das verflixte Wetter schuld?! Wohl eher nicht. Man könnte eher sagen, das Wetter hat uns vor einer großen Dummheit bewahrt. Wir waren bis zur Scharte viel zu langsam, schlecht akklimatisiert und regeneriert, hatten zu viel sinnlose Energie verbraucht und waren obendrein nicht im vollen Besitz unserer Kräfte fit (ich zumindest), als dass unsere Chancen auf eine erfolgreiche Tour je gut gestanden hätten. Vielleicht ist Karma doch keine so große Bitch wie man gern vorschnell sagt…
Der Rückweg zum Auto war kein leichter. Immer wieder mussten wir anhalten, uns umdrehen und zu diesem einmaligen Grat aufschauen, an dem kleine Punkte dem Himmel entgegen stapften. Wir waren nicht dabei. Zum Glück – wer weiß, wie die Sache sonst ausgegangen wäre. Bitter war es trotzdem – musste es auch sein – um beim nächsten Mal ein bisschen schlauer zu sein.
Nun sitze ich hier…einige Stunden und 900km später und immer noch mit der Enttäuschung und dem schlechten Gefühl wie nach einem wichtigen verlorenen Fußballspiel. Heimgekommen mit einer Niederlage, die ihre Spuren hinterlassen wird. Vielleicht ist es aber eine Niederlage, die später einmal einen wichtigen Beitrag zum Erfolg leisten kann. Hoffentlich!
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