Altissimum regionis huius montem, quem non immerito
Ventosum vocant, hodierno die, sola videndi insignem
loci altitudinem cupiditate ductus, ascendi. (1)
Der Mont Ventoux ist einer der westlichsten Berge der Alpen. Und er ist mit einer Höhe von 1.909 Metern ein Riese, der aus der eher flachen Provence herausragt. Nicht umsonst wird er "le géant de Provence" genannt. Er ist von allen Seiten her weithin sichtbar. Francesco Petrarca beschreibt in einem Brief die Besteigung dieses Berges im Jahr 1336 gemeinsam mit seinem Bruder. Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Alpinismus in Europa zu entwickeln begann, waren es vor allem Akademiker, die in die Berge zogen, nur um diese zu besteigen. Sie konnten es sich leisten, hatten sie doch die finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Alpinistengilde eine historisch-intellektuelle Grundlage für ihr Tun suchte. Und mit Petrarcas Text, hatten sie das richtige Manifest gefunden: Seht her, schon Petrarca ist auf den Berg gestiegen, nur um dort oben zu sein! Petrarca, der erste Humanist und der erste als modern zu bezeichnende Mensch, war auch der erste Alpinist! Inwieweit diese Zuordnung gerechtfertigt war, sei einmal dahingestellt. (2) Aber wenn es diesen Konnex zwischen Petrarca und dem Alpinismus nun einmal gibt, dann ist für einen bergbegeisterten Menschen wie mich der Wunsch naheliegend, sich die Dinge einmal in der Realität anzuschauen. Ist es am Mont Ventoux wirklich so, wie Petrarca es beschrieb?
Darüber hinaus ist der Mont Ventoux auch noch eine Ikone des Radsports. Wie oft war er Bestandteil denkwürdiger Etappen der Tour de France! Wenn man also neben der Bergbegeisterung auch noch Rennradfahrer ist, potenziert sich das Interesse an diesem Berg geradezu. Und um ehrlich zu sein, der Wunsch, den Mont Ventoux mit dem Fahrrad zu erklimmen, war ein wesentlicher Impuls für diese Reise. Wohlweislich habe ich mich für diese Etappe das ganze Jahr über gut vorbereitet. So glaube ich zumindest. Ob es wohl ausreichend war?
Petrarca hat für seine Ventoux-Besteigung den Ort Malaucène als Ausgangspunkt gewählt. Einer der drei Fahrrad-Anstiege führt von hier auf den Gipfel. Ich wähle für mich aber den Südanstieg von Bédoin aus. Der ist zwar härter, aber er ist die klassische Auffahrt der Tour de France. Auch ist er landschaftlich wesentlich interessanter, wie ich im Nachhinein feststellen konnte. Mein Startpunkt liegt aber noch ein Stück weiter unten: Carpentras. In dieser Kleinstadt hat Petrarca seine Jugend verbracht. Während sein Vater beruflich in Avignon tätig war, lebte die Familie hier in Carpentras ca. 25 Kilometer außerhalb der Stadt. Ich fahre zeitig in der Früh mit dem Regionalzug von Avignon hierher. Es ist immer wieder eine Herausforderung, in unbekannten Orten die richtigen Ausfahrtsstraßen zu erwischen. "Pardon, pour aller à Bédoin cette rue est correcte ?" – "Oui, à 200 mètres c'est un rond-point. Là, vous tournez à gauche." – "Merci, Madame !"
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(Auf dem Weg nach Bédoin. Der Mont Ventoux erscheint als Riese schemenhaft im Hintergrund.)
Die erste Passage von Carpentras nach Bédoin ist ungut. Zwar ist es noch angenehm kühl, doch auf der Landstraße ist viel Verkehr. Jetzt um 8 Uhr in der Früh müssen sich offensichtlich alle beeilen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Dass es hier bereits sanft, aber kontinuierlich bergauf geht, bemerke ich gar nicht. Ganz anders dann in Bédoin: Der Ort quillt über von Fahrrädern und die ersten Leute sind von hier schon längst in Richtung Gipfel gestartet. Ich bin durch den Abschnitt von Carpentras her schon eingefahren, so ist es für mich nicht mehr so schwierig, in den richtigen Rhythmus zu kommen.
Es wird steiler. Ich hole immer wieder Radfahrer ein, werde aber immer wieder selbst überholt. Da sind einige ganz verbissen und fahren jetzt schon mit einem hochroten Kopf. Etliche E-Bikes sind ebenfalls unterwegs und surren an mir vorbei. Im Gegensatz zu den "Originalstramplern" sitzen die Leute dort recht entspannt oben…
Die Straße schlängelt sich nach oben. Jetzt beginnt der Wald und es wird nochmals steiler. Immer so um die 10% Steigung und es gibt nie ein flacheres Stück zum zwischenzeitlichen Erholen… Hilft nichts, da muss ich jetzt durch! Es heißt Treten, Treten, Treten…
Petrarca schreibt, dass er wegen der Anstrengung immer wieder vom steilen Weg abgezweigt ist, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen, dass er aber dann immer wieder unter noch größeren Mühen zu den anderen, die am richtigen Weg geblieben waren, direkt aufsteigen musste. Also vom Weg abzukommen, das gelingt mir hier beim besten Willen nicht… Manche haben ihr persönliches Begleitfahrzeug mit: Mama fährt mit dem Auto Getränke und Jause den Berg hinauf und bleibt alle paar Kilometer stehen, während Papa und Sohn sich die Straße am Rad hinaufquälen. Anstatt eines Begleitfahrzeugs hatten Petrarca und sein Bruder jeweils einen Diener mit. Tja, auf diesen Luxus muss ich heute verzichten… Es heißt Treten, Treten, Treten…
Es ist ein buntes Völkchen, das hier bei der Auffahrt ist. Alle möglichen Sprachen hört man, alle möglichen Altersgruppen, Männer und Frauen sind bunt gemischt. Es hat irgendetwas Völkerverbindendes. Oder ist es das Volk der Radfahrer, das hier den heiligen Berg emporzieht, um am Gipfel die Offenbarung zu erlangen? Petrarca entwickelt seinen Text sukzessive von der Beschreibung des realen Aufstiegs hin zu ethisch-transzendenten Überlegungen. Also beim besten Willen, hochgeistig kann ich jetzt nicht mehr denken… Es heißt Treten, Treten, Treten…
Auf einer Höhe von 1.000 Metern lichtet sich der Wald und der markante Gipfel mit seinen Schuttflanken wird in der Ferne sichtbar. Es ist jetzt 10 Uhr und ich mache eine erste kurze Rast. Eigentlich ist es bisher eh nicht schlecht gegangen. Ich stehe neben der Straße und schaue mir die Auf- und Vorbeifahrt des Volks der Velozipedisten an. Das schaut so aus wie im Theater. Doch hier ist es Realität. Ich steige wieder aufs Rad… Es heißt Treten, Treten, Treten…
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(Die sehr hart zu fahrende Waldpassage geht allmählich zu Ende. Der Gipfel ist noch weit entfernt.)
Die Landschaft wird jetzt immer abwechslungsreicher. Beim Chalet Reynard auf ca. 1.400 Metern vereint sich der ostseitige Anstieg von Sault mit unserer Straße. Ab nun sind noch mehr Leute unterwegs… Eine Hirtin treibt ihre Schafe, unterstützt von einem Boader Collie an uns vorbei. Die Herde ist riesig! Das müssen mehrere hundert Schafe sein. Ich komme jetzt in den reinen Karstabschnitt des Berges. Rund um die Straße sind nur mehr Schutthalden zu sehen. Die Schweißfahnen, die die vielen in einer Karawane hintereinanderfahrenden Velozipedisten hinter sich herziehen, vermischen sich zu etwas, das ich spontan mit 'olfaktorischer Kakophonie' beschrieben hätte. Nein, da muss es einen passenderen Begriff dafür geben. (3) Für weiterführende Überlegungen und Analysen zu diesem Thema ist jetzt aber wirklich nicht der richtige Zeitpunkt... Es heißt Treten, Treten, Treten… Und die Beine werden langsam aber sicher auch schon ziemlich müde.
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(Das Ende der Auffahrt rückt in Sichtweite. Rechts der Gedenkstein für Tom Simpson.)
Fotografen sitzen am Straßenrand und machen Fotos der vorbeifahrenden Kolonne. Bitte lächeln…! Die Bilder kann man in den folgenden Tagen über das Internet käuflich erwerben. Die Steigung lässt nicht nach. Eine Dame im fortgeschrittenen Alter saust mit wehendem Schal auf ihrem E-Bike die Straße hinunter. Mit ihrem Fahrradkorb, den sie auf dem Gepäcksträger montiert hat, wirkt es so, als würde sie gerade vom Einkaufen kommen. Es sind jetzt noch ungefähr zwei Kilometer bis zum Gipfel. Das heißt, noch 200 Höhenmeter. Ich mache noch einmal eine kurze Pause. Ab jetzt werde ich mich, so Velozus, der Gott der Radfahrer will, in einem Sitz bis zum Gipfel durchbeißen. Falsch, da ist ja noch das Mahnmal für Tom Simpson, der 1967 bei der Tour de France hier an dieser Stelle verstorben ist. Das muss ich noch fotografieren. Dann noch einmal für 20 Sekunden die allmählich krampfenden Beine ausschütteln und ich bin oben!
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(Der Gipfel ist fest in der Hand der RadfahrerInnen...)
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(Blick zurück auf die letzten Kilometer des Südanstiegs.)
Es ist kühl und windig. Kein Wunder bei dieser Höhe und diesem Bergnamen… Die Stimmung hier ist von Erleichterung und Fröhlichkeit geprägt. Leider ist es heute etwas dunstig, sodass die Fernsicht nicht wirklich gut ist. Doch das Panorama ist überwältigend. Petrarca hat damals, nachdem er die Aussicht nur kurz genossen hatte, ein Buch hervorgezogen und darin gelesen. Es war eine Miniaturausgabe der "Bekenntnisse" des Augustinus. Das ist kein schlechtes Werk! Ich habe es mir in der Vorbereitung auf diese Reise zu Gemüte geführt. Meine Reclam-Ausgabe dieses Buches hat aber mehr als 400 Seiten... Ok, der lateinische Originaltext ist kompakter und somit kürzer. Wahrscheinlich dürfte er eine Länge von etwa zwei Dritteln des deutschen Textes haben. Also schon einmal gut 250 Seiten gedrucktes Kleinformat. Wie klein, oder besser gesagt wie groß war dann Petrarcas Handexemplar? Hat er das wirklich auf den Mont Ventoux hinaufgetragen? Ich habe jedenfalls mein Buch erst gar nicht auf die Reise mitgenommen, um Gewicht zu sparen…
Voll von Gedanken steige ich wieder aufs Rad. Der frische Fahrtwind der flotten Abfahrt bläst sie mir aber bald aus dem Kopf. Ich rausche die andere Route hinunter nach Malaucène, das 1336 Ausgangs- und Zielort von Petrarcas Gipfelbesteigung war. Ich bin aber noch nicht am Ausgangspunkt zurück. Hinüber nach Carpentras geht's zuerst noch ein gutes Stück bergauf. Ich bin darüber nicht sehr erfreut, aber letztlich endet auch diese Radrunde, die mit knapp 1.900 gefahrenen Höhenmetern wirklich nicht gerade schwach war. Unterwegs drehe ich mich noch einmal um und betrachte den Riesen der Provence hinter mir, der sich mächtig in der Ferne aufbaut. Ungläubig rufe ich mir in Erinnerung, dass ich vor einer guten Stunde noch dort oben war. Mit dem Regionalzug zockle ich dann zurück nach Avignon.
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(Blick nach Nordosten in Richtung der Alpen während der Abfahrt nach Malaucène. Leider ist es heute etwas diesig.)
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(Zurück nach Carpentras durch die wunderschöne Landschaft der Provence.)
Anmerkungen:
Mein Ausflug auf den Mont Ventoux war Teil einer Reise auf den Spuren von Francesco Petrarca durch Italien und Südfrankreich.
Petrarca - Mont Ventoux_2023_08.pdf
Ventosum vocant, hodierno die, sola videndi insignem
loci altitudinem cupiditate ductus, ascendi. (1)
Der Mont Ventoux ist einer der westlichsten Berge der Alpen. Und er ist mit einer Höhe von 1.909 Metern ein Riese, der aus der eher flachen Provence herausragt. Nicht umsonst wird er "le géant de Provence" genannt. Er ist von allen Seiten her weithin sichtbar. Francesco Petrarca beschreibt in einem Brief die Besteigung dieses Berges im Jahr 1336 gemeinsam mit seinem Bruder. Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Alpinismus in Europa zu entwickeln begann, waren es vor allem Akademiker, die in die Berge zogen, nur um diese zu besteigen. Sie konnten es sich leisten, hatten sie doch die finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Alpinistengilde eine historisch-intellektuelle Grundlage für ihr Tun suchte. Und mit Petrarcas Text, hatten sie das richtige Manifest gefunden: Seht her, schon Petrarca ist auf den Berg gestiegen, nur um dort oben zu sein! Petrarca, der erste Humanist und der erste als modern zu bezeichnende Mensch, war auch der erste Alpinist! Inwieweit diese Zuordnung gerechtfertigt war, sei einmal dahingestellt. (2) Aber wenn es diesen Konnex zwischen Petrarca und dem Alpinismus nun einmal gibt, dann ist für einen bergbegeisterten Menschen wie mich der Wunsch naheliegend, sich die Dinge einmal in der Realität anzuschauen. Ist es am Mont Ventoux wirklich so, wie Petrarca es beschrieb?
Darüber hinaus ist der Mont Ventoux auch noch eine Ikone des Radsports. Wie oft war er Bestandteil denkwürdiger Etappen der Tour de France! Wenn man also neben der Bergbegeisterung auch noch Rennradfahrer ist, potenziert sich das Interesse an diesem Berg geradezu. Und um ehrlich zu sein, der Wunsch, den Mont Ventoux mit dem Fahrrad zu erklimmen, war ein wesentlicher Impuls für diese Reise. Wohlweislich habe ich mich für diese Etappe das ganze Jahr über gut vorbereitet. So glaube ich zumindest. Ob es wohl ausreichend war?
Petrarca hat für seine Ventoux-Besteigung den Ort Malaucène als Ausgangspunkt gewählt. Einer der drei Fahrrad-Anstiege führt von hier auf den Gipfel. Ich wähle für mich aber den Südanstieg von Bédoin aus. Der ist zwar härter, aber er ist die klassische Auffahrt der Tour de France. Auch ist er landschaftlich wesentlich interessanter, wie ich im Nachhinein feststellen konnte. Mein Startpunkt liegt aber noch ein Stück weiter unten: Carpentras. In dieser Kleinstadt hat Petrarca seine Jugend verbracht. Während sein Vater beruflich in Avignon tätig war, lebte die Familie hier in Carpentras ca. 25 Kilometer außerhalb der Stadt. Ich fahre zeitig in der Früh mit dem Regionalzug von Avignon hierher. Es ist immer wieder eine Herausforderung, in unbekannten Orten die richtigen Ausfahrtsstraßen zu erwischen. "Pardon, pour aller à Bédoin cette rue est correcte ?" – "Oui, à 200 mètres c'est un rond-point. Là, vous tournez à gauche." – "Merci, Madame !"
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(Auf dem Weg nach Bédoin. Der Mont Ventoux erscheint als Riese schemenhaft im Hintergrund.)
Die erste Passage von Carpentras nach Bédoin ist ungut. Zwar ist es noch angenehm kühl, doch auf der Landstraße ist viel Verkehr. Jetzt um 8 Uhr in der Früh müssen sich offensichtlich alle beeilen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Dass es hier bereits sanft, aber kontinuierlich bergauf geht, bemerke ich gar nicht. Ganz anders dann in Bédoin: Der Ort quillt über von Fahrrädern und die ersten Leute sind von hier schon längst in Richtung Gipfel gestartet. Ich bin durch den Abschnitt von Carpentras her schon eingefahren, so ist es für mich nicht mehr so schwierig, in den richtigen Rhythmus zu kommen.
Es wird steiler. Ich hole immer wieder Radfahrer ein, werde aber immer wieder selbst überholt. Da sind einige ganz verbissen und fahren jetzt schon mit einem hochroten Kopf. Etliche E-Bikes sind ebenfalls unterwegs und surren an mir vorbei. Im Gegensatz zu den "Originalstramplern" sitzen die Leute dort recht entspannt oben…
Die Straße schlängelt sich nach oben. Jetzt beginnt der Wald und es wird nochmals steiler. Immer so um die 10% Steigung und es gibt nie ein flacheres Stück zum zwischenzeitlichen Erholen… Hilft nichts, da muss ich jetzt durch! Es heißt Treten, Treten, Treten…
Petrarca schreibt, dass er wegen der Anstrengung immer wieder vom steilen Weg abgezweigt ist, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen, dass er aber dann immer wieder unter noch größeren Mühen zu den anderen, die am richtigen Weg geblieben waren, direkt aufsteigen musste. Also vom Weg abzukommen, das gelingt mir hier beim besten Willen nicht… Manche haben ihr persönliches Begleitfahrzeug mit: Mama fährt mit dem Auto Getränke und Jause den Berg hinauf und bleibt alle paar Kilometer stehen, während Papa und Sohn sich die Straße am Rad hinaufquälen. Anstatt eines Begleitfahrzeugs hatten Petrarca und sein Bruder jeweils einen Diener mit. Tja, auf diesen Luxus muss ich heute verzichten… Es heißt Treten, Treten, Treten…
Es ist ein buntes Völkchen, das hier bei der Auffahrt ist. Alle möglichen Sprachen hört man, alle möglichen Altersgruppen, Männer und Frauen sind bunt gemischt. Es hat irgendetwas Völkerverbindendes. Oder ist es das Volk der Radfahrer, das hier den heiligen Berg emporzieht, um am Gipfel die Offenbarung zu erlangen? Petrarca entwickelt seinen Text sukzessive von der Beschreibung des realen Aufstiegs hin zu ethisch-transzendenten Überlegungen. Also beim besten Willen, hochgeistig kann ich jetzt nicht mehr denken… Es heißt Treten, Treten, Treten…
Auf einer Höhe von 1.000 Metern lichtet sich der Wald und der markante Gipfel mit seinen Schuttflanken wird in der Ferne sichtbar. Es ist jetzt 10 Uhr und ich mache eine erste kurze Rast. Eigentlich ist es bisher eh nicht schlecht gegangen. Ich stehe neben der Straße und schaue mir die Auf- und Vorbeifahrt des Volks der Velozipedisten an. Das schaut so aus wie im Theater. Doch hier ist es Realität. Ich steige wieder aufs Rad… Es heißt Treten, Treten, Treten…
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(Die sehr hart zu fahrende Waldpassage geht allmählich zu Ende. Der Gipfel ist noch weit entfernt.)
Die Landschaft wird jetzt immer abwechslungsreicher. Beim Chalet Reynard auf ca. 1.400 Metern vereint sich der ostseitige Anstieg von Sault mit unserer Straße. Ab nun sind noch mehr Leute unterwegs… Eine Hirtin treibt ihre Schafe, unterstützt von einem Boader Collie an uns vorbei. Die Herde ist riesig! Das müssen mehrere hundert Schafe sein. Ich komme jetzt in den reinen Karstabschnitt des Berges. Rund um die Straße sind nur mehr Schutthalden zu sehen. Die Schweißfahnen, die die vielen in einer Karawane hintereinanderfahrenden Velozipedisten hinter sich herziehen, vermischen sich zu etwas, das ich spontan mit 'olfaktorischer Kakophonie' beschrieben hätte. Nein, da muss es einen passenderen Begriff dafür geben. (3) Für weiterführende Überlegungen und Analysen zu diesem Thema ist jetzt aber wirklich nicht der richtige Zeitpunkt... Es heißt Treten, Treten, Treten… Und die Beine werden langsam aber sicher auch schon ziemlich müde.
MV_3.jpg
(Das Ende der Auffahrt rückt in Sichtweite. Rechts der Gedenkstein für Tom Simpson.)
Fotografen sitzen am Straßenrand und machen Fotos der vorbeifahrenden Kolonne. Bitte lächeln…! Die Bilder kann man in den folgenden Tagen über das Internet käuflich erwerben. Die Steigung lässt nicht nach. Eine Dame im fortgeschrittenen Alter saust mit wehendem Schal auf ihrem E-Bike die Straße hinunter. Mit ihrem Fahrradkorb, den sie auf dem Gepäcksträger montiert hat, wirkt es so, als würde sie gerade vom Einkaufen kommen. Es sind jetzt noch ungefähr zwei Kilometer bis zum Gipfel. Das heißt, noch 200 Höhenmeter. Ich mache noch einmal eine kurze Pause. Ab jetzt werde ich mich, so Velozus, der Gott der Radfahrer will, in einem Sitz bis zum Gipfel durchbeißen. Falsch, da ist ja noch das Mahnmal für Tom Simpson, der 1967 bei der Tour de France hier an dieser Stelle verstorben ist. Das muss ich noch fotografieren. Dann noch einmal für 20 Sekunden die allmählich krampfenden Beine ausschütteln und ich bin oben!
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(Der Gipfel ist fest in der Hand der RadfahrerInnen...)
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(Blick zurück auf die letzten Kilometer des Südanstiegs.)
Es ist kühl und windig. Kein Wunder bei dieser Höhe und diesem Bergnamen… Die Stimmung hier ist von Erleichterung und Fröhlichkeit geprägt. Leider ist es heute etwas dunstig, sodass die Fernsicht nicht wirklich gut ist. Doch das Panorama ist überwältigend. Petrarca hat damals, nachdem er die Aussicht nur kurz genossen hatte, ein Buch hervorgezogen und darin gelesen. Es war eine Miniaturausgabe der "Bekenntnisse" des Augustinus. Das ist kein schlechtes Werk! Ich habe es mir in der Vorbereitung auf diese Reise zu Gemüte geführt. Meine Reclam-Ausgabe dieses Buches hat aber mehr als 400 Seiten... Ok, der lateinische Originaltext ist kompakter und somit kürzer. Wahrscheinlich dürfte er eine Länge von etwa zwei Dritteln des deutschen Textes haben. Also schon einmal gut 250 Seiten gedrucktes Kleinformat. Wie klein, oder besser gesagt wie groß war dann Petrarcas Handexemplar? Hat er das wirklich auf den Mont Ventoux hinaufgetragen? Ich habe jedenfalls mein Buch erst gar nicht auf die Reise mitgenommen, um Gewicht zu sparen…
Voll von Gedanken steige ich wieder aufs Rad. Der frische Fahrtwind der flotten Abfahrt bläst sie mir aber bald aus dem Kopf. Ich rausche die andere Route hinunter nach Malaucène, das 1336 Ausgangs- und Zielort von Petrarcas Gipfelbesteigung war. Ich bin aber noch nicht am Ausgangspunkt zurück. Hinüber nach Carpentras geht's zuerst noch ein gutes Stück bergauf. Ich bin darüber nicht sehr erfreut, aber letztlich endet auch diese Radrunde, die mit knapp 1.900 gefahrenen Höhenmetern wirklich nicht gerade schwach war. Unterwegs drehe ich mich noch einmal um und betrachte den Riesen der Provence hinter mir, der sich mächtig in der Ferne aufbaut. Ungläubig rufe ich mir in Erinnerung, dass ich vor einer guten Stunde noch dort oben war. Mit dem Regionalzug zockle ich dann zurück nach Avignon.
MV_6.jpg
(Blick nach Nordosten in Richtung der Alpen während der Abfahrt nach Malaucène. Leider ist es heute etwas diesig.)
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(Zurück nach Carpentras durch die wunderschöne Landschaft der Provence.)
Anmerkungen:
- "Die Besteigung des Mont Ventoux", epistolae familiares IV, 1 (Wer an dem gesamten Text von Francesco Petrarca intressiert ist, findet hier im beiliegenden pdf-Dokument eine Übersetzung.)
- Siehe hierzu z. B.: https://bergsteiger.de/bergszene/rep...r-mont-ventoux (13.8.2023)
- Der logische Begriff wäre "Kakosmie". Leider wurde er von der Medzin zur Benennung der Krankheit des Fehlriechens bereits okkupiert.
Mein Ausflug auf den Mont Ventoux war Teil einer Reise auf den Spuren von Francesco Petrarca durch Italien und Südfrankreich.
Petrarca - Mont Ventoux_2023_08.pdf
Kommentar